Hans-Peter Kleebinder: „Unsere letzte Chance“

von Markus Bistrick

Die Corona-Krise wird den Mobilitätswandel massiv beschleunigen, davon ist Hans-Peter Kleebinder fest überzeugt. Und der 55-jährige Möschenfelder muss es wissen.

Kaum jemand kennt die Automobilindustrie, aber auch die Wünsche der Kunden so gut wie er. Als „Mr. MINI Deutschland“ war er maßgeblich am hiesigen Erfolg der britischen Kultmarke beteiligt, auch für BMW und Audi setzte der Mobilitätsexperte wichtige Akzente. Heute ist er international gefragter Redner und sagt Sätze wie: „Die deutschen Autobauer haben falsch, viel zu wenig und spät in die Zukunft investiert.“ Wie sieht sie aus, die Mobilität der Zukunft? Wir haben Dr. oec. Hans-Peter Kleebinder daheim in Möschenfeld besucht. Dort lebt der gebürtige Ingolstädter seit mehr als 30 Jahren.

Herr Kleebinder, Sie beschäftigen sich intensiv mit der Mobilität von morgen, was ist Ihr Antrieb?

Wir erleben und erleiden heute in Deutschland den täglichen Mobilitätsinfarkt: auf unseren Straßen, in der Luft, auf den Schienen. Es ist keine Lust, sondern eine Last, sich von A nach B zu bewegen. Und der Verkehr schadet der Umwelt massiv. Deshalb brauchen wir jetzt einen Paradigmenwechsel. Weg von der klassischen autogerechten Stadt, hin zu menschenzentrierten Lebensräumen, die auf unsere Bedürfnisse ausgerichtet sind. Mobilität kann sicherer, umweltfreundlicher und entspannter werden, wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen.

Hans-Peter Kleebinder leitete bereits 1995 an der Universität St. Gallen ein Forschungsprojekt zur Zukunft der Mobilität in Europa. Von 1995 bis 2017 war er in leitenden Positionen bei MINI, BMW und Audi. Heute ist er unabhängiger Mobilitätsexperte und unterstützt Unternehmen, Marken und Menschen auf dem Weg in deren nachhaltige, intelligente und sichere Zukunft. Hans-Peter Kleebinder ist Studienleiter des neuen Executive Programms „SMART Mobility Management“ an der Universität St. Gallen und einer der TOP 100 Europäischen Redner von Speakers Excellence & Handelsblatt sowie wissenschaftlicher Fachbeirat im Bundesverband eMobilität e.V. Mit seiner Familie lebt der 55-Jährige in Möschenfeld. www.kleebinder.net (Foto: Ilona Stelzl)

Über die notwendigen Maßnahmen wird aktuell viel diskutiert. Welche Faktoren werden dabei unterschätzt, welche überschätzt?

Man sollte sich mehr mit Sharing-Modellen beschäftigen, mit Parkraumbewirtschaftung, mit der problematischen Ökobilanz des SUV-Booms und auch mit der Bedeutung der „letzten Meile“: Wie komme ich von der ÖPNV-Haltestelle zu meiner Haustür? Überschätzt werden dagegen Fahrverbote und die Rolle der Autoindustrie.

Welche Trends bestimmen die Entwicklung der Autobranche?

Kurz auf den Punkt gebracht: Autos werden in Zukunft vernetzt sein, autonom fahren und elektrisch angetrieben. Und sie werden geteilt statt besessen. Mit kleinen Optimierungen hier und da wird es nicht mehr getan sein. Wir brauchen eine radikale Mobilitäts-Revolution mit intelligenten, vernetzten und nachhaltigen Verkehrssystemen. Dazu sollten sich idealerweise alle Beteiligten – die Politik, die Kommunen, die Verkehrsbetriebe und die Autohersteller – auf eine gemeinsame Agenda einigen, quasi ein „New Mobility“-Manifest, das noch geschrieben werden muss.

Welche Rolle spielt Wasserstoff?

E-Mobilität ist kein Allheilmittel, aber die notwendige und sinnvolle Übergangslösung zu einer klimaneutralen Antriebsform – so lange keine andere Technologie serienreif ist, die wirklich saubere Energie ins Auto bringt. Eine mögliche Alternative – wie Sie sagen – das Wasserstoffauto, ist leider noch weit von der Wirtschaftlichkeit und Serienreife entfernt. Die deutsche Automobilindustrie hat falsch und viel zu spät in die E-Mobilität investiert. Das liegt unter anderem an den reduzierten Erlöspotentialen in der gesamten Wertschöpfungskette.

Heißt was?

Rund 80 Prozent ihres Gewinns machen Hersteller und Händler nicht mit dem Fahrzeug-Verkauf, sondern mit Aftersales, also unter anderem mit Service, Ersatzteilen und Werkstätten. Aber: In einem Verbrennungsmotor werden mindestens 1200 Teile verbaut, beim Elektromotor nur rund 200. Und weil weniger Verschleißteile an Bord sind, müssen Elektroautos seltener repariert werden. Auch heutige Standarddienstleistungen wie der Ölwechsel entfallen. Software-Updates werden in Zukunft nicht mehr in der Werkstatt, sondern über das Internet ins Auto übertragen. Und wenn selbstfahrende Autos auf den Straßen unterwegs sind, dürfte auch die Zahl der Unfälle und Todesfälle deutlich sinken. Was grundsätzlich natürlich eine sehr gute Nachricht ist. Das belastet jedoch das Geschäft der Werkstätten und Ersatzteillieferanten massiv. Kurzum: Mit der neuen Mobilitätswelt verändert sich auch das Geschäftsmodell.

Im Klartext: Arbeitsplätze fallen weg.

Neue Wertschöpfungsmöglichkeiten bieten die intelligente Verbindung von Elektrofahrzeugen mit Energiesystemen und Daten und die Verknüpfung mit neuen Mobilitätsdienstleistungen. Die Musik spielt nicht mehr in der Hardware, sondern in den intelligenten Systemen, die unsere Mobilität organisieren. Software-Entwickler sind gefragt und der Standort München ist schon jetzt ganz vorne dabei. Nur ein Beispiel: Apple wird in den kommenden Jahren über eine Milliarde Euro in München investieren, hunderte neue Mitarbeiter einstellen und einen neuen Standort mit Fokus auf Konnektivität und drahtlose Technologien errichten. München wird übrigens Apples größtes Entwicklungszentrum in Europa. In Richtung Automobilindustrie kann ich nur sagen: Ein schneller Umstieg verbessert die Chancen. Der Wandel ist in vollem Gange und auch durch das Festhalten an tradierten Geschäftsmodellen nicht mehr aufzuhalten. Die Autobauer sollten sich nicht weiter darauf konzentrieren, Blech zu verkaufen, sondern Mobilität als eine Dienstleistung. Es wird künftig weniger um die Transport-Träger als um die dahinter liegenden Mobilitäts-Systeme gehen.

Wie gut sind die deutschen Autohersteller für die mobile Zukunft aufgestellt?

BMW liegt beim Produktportfolio vorn, vor allem mit der Hybridisierung. VW gibt als Vollsortiment-Anbieter mit elf Marken endlich Gas. Die Richtung und das Tempo geben jedoch ganz klar andere vor: Vor allem Tesla hat unsere Automobilindustrie aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Dort steht radikale Kundenzentrierung und der ganzheitliche Ansatz einer „circular mobility economy“ im Verbund mit Energie, Daten und neuen Verkehrsträgern im Mittelpunkt. Aber auch neue Mobilitäts-Services wie FlixMobility, BlaBlaCar und Omio sehe ich als weitere Anführer der Mobilitäts-Revolution.

Wo bleibt die Freude am Fahren?

Unser Fahrerlebnis beruht auch in Zukunft in erster Linie auf Beschleunigung, Kurven-Stabilität, Raumgefühl und Geschwindigkeit. Ein solches Erlebnis lässt sich mit einem Elektromotor sogar noch viel intensiver, entspannter und genussvoller gestalten. Smart Mobility, wie ich sie verstehe, hat überhaupt nichts mit Lustverzicht zu tun. Im Gegenteil: Mobilität soll Spaß machen und unser Leben erleichtern. Das ist auch deshalb so wichtig, weil sie eine der fünf elementaren menschlichen Grundbedürfnisse darstellt – neben Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf haben und Liebe machen. Sie ist Grundlage unserer persönlichen Autonomie und Lebensqualität. Aber wo bleibt die, wenn ich täglich zwei Mal im Stau stehe?

Was ist mit der Lust am eigenen Auto?

Das Auto verliert als Statussymbol schon seit längerer Zeit an Bedeutung – nicht in allen Kulturräumen, aber in den westlich geprägten. Wir sehen deutlich, dass es insbesondere für jüngere Menschen wichtiger ist, wie und wie schnell und nachhaltig sie sich von A nach B bewegen, weniger womit. Deshalb sollten wir uns noch viel stärker mit Nutzungsformen beschäftigen, für Autos, E-Bikes und Fahrräder. Nutzen und Teilen wird künftig wichtiger als Kaufen und Besitzen. Auch das hat nur wenig mit Verzicht zu tun. Es ist komfortabler, weil wir unsere Fahrzeuge nicht mehr parken und warten müssen. Und es bringt uns persönliche Autonomie zurück, weil wir unabhängiger vom privaten Pkw immer genau die Verkehrsmittel nutzen können, die uns am schnellsten und bequemsten an unser Ziel bringen.

Jeder dritte neuzugelassene PKW im Jahr 2020 war ein SUV.

Eigentlich wollen die Menschen selbst eine bessere Mobilität, aber der Umstieg ist nicht einfach genug. Deshalb müssen die Kommunen für bessere Rahmenbedingungen sorgen, damit sich attraktive Alternativen entwickeln können. Zudem können Politik und auch die Medien dazu beitragen, einen Hebel im Kopf der Menschen umzulegen. Noch trägt es vielerorts nicht zum Prestige bei oder wird unter Geiz-Verdacht gestellt, wenn jemand Carsharing-Nutzer ist oder mit Bus oder Fahrrad zur Arbeit kommt. Aber warum kann es nicht künftig gerade zum Statussymbol werden, sich offen für Alternativen und damit für den Wandel zu zeigen? Erste Anzeichen dafür sind bereits spürbar, und vielleicht erreichen wir hier bald den „Tipping Point“, der eine Gegenbewegung erzeugt.

Welche Rolle spielt dabei Corona?

Covid-19 wirkt – zusammen mit Tesla und Dieselgate – wie ein Verstärker und Beschleuniger für die Notwendigkeit des Umdenkens und Wandels. Nach der erzwungenen Digitalisierung unserer Kommunikation durch Videokonferenzen und wegfallende Arbeitswege durch Homeoffice steht jetzt die Digitalisierung unserer Produktions- und Lieferketten an. Jetzt ist die aus meiner Sicht letzte Chance, die Transformation unserer Leitindustrie umzusetzen und eine ganzheitliche Mobilitätswende Hand-in-Hand mit einer Energiewende umzusetzen. Ich bin überzeugt, dass wir gestärkt aus dieser Krise herausgehen könnten. Dafür müssen wir jetzt mutig die Ärmel hochkrempeln und brauchen dafür als Grundlage einen Masterplan „Mobilitätswende“.

Herr Kleebinder, vielen Dank für das Gespräch.

Hans-Peter Kleebinder unterstützt mit seinem Know-how die Markteinführung des Microlino. Der moderne Nachfolger der BMW Isetta ist ein platzsparendes Stadtauto mit zwei Sitzplätzen aus der Schweiz mit einer Reichweite von bis zu 200 Kilometer bei einer Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h. Der Möschenfelder testet einen Prototyp. Im Spätsommer soll der Microlino auf den Markt kommen. (Foto: Ilona Stelzl)