So nicht!

von Markus Bistrick

„Wenn wir nicht bald die Wende schaffen, ist Deutschland, das Schlendrianland, die Republik der sich durchwurstelnden Schlamperei, im Begriff zu verkommen“, sagt der langjährige Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, Sigmund Gottlieb, der rund 35 Jahre in Vaterstetten gewohnt hat. In seinem neuen Buch: „So nicht. Klartext zur Lage der Nation“ bemängelt der 71-Jährige fehlenden Ehrgeiz, eine falsche Arbeitsethik und Schönfärberei durch die politisch Verantwortlichen. Wie konnte es soweit kommen? Und was muss sich ändern? B304.de hat nachgefragt.

Herr Gottlieb, in Ihrem Buch diagnostizieren Sie u.a. ein Haltungsproblem. Sie schreiben: „Die Deutschen haben sich in ihrem Wohlstand bequem eingerichtet. Es reicht ihnen offenbar, Durchschnitt zu sein.“ Sigmund Gottlieb:

So ist es auch. Wir strengen uns nicht mehr an, wir sind bequem und nachlässig geworden. Wir lassen viele Dinge verkommen und ruhen uns auf dem Wohlstand aus, der uns in einer weich gefederten Hängematte in den letzten Jahren getragen hat. Wir stopfen die Leute mit Sozialleistungen voll, die wie das Manna vom Himmel kommen. Und nun stellen wir langsam fest, dass diese Hängematte Löcher bekommt. Schauen Sie sich mal um, kaum ein Industrieland wächst so wenig wie Deutschland. In kaum einem anderen Land wird weniger gearbeitet, nirgendwo gibt es mehr Urlaub. Es scheint so, als ob Arbeit das Gegenteil vom Leben wäre. Aber: Ein Land beginnt zu zerfallen, wenn die Arbeit als etwas Negatives, Belastendes, Überflüssiges, Schlechtes, Unwürdiges, Unmenschliches, als etwas, das sein muss, wahrgenommen wird. Es ist noch nicht lange her, da zählte Deutschland zur Weltspitze. Auf dem Siegertreppchen stehen wir jetzt aber nur noch bei der Sozialbetreuung durch den Staat. Natürlich auf Pump. Und wir begnügen uns damit, Durchschnitt zu sein, während die Verantwortlichen die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Deutschland hat sich zur Nation der drei Affen entwickelt, die sich Ohren, Augen und den Mund zu halten. Anstrengung, Ehrgeiz, Gründlichkeit, Perfektion, Präzision made in Germany waren einmal Alleinstellungsmerkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Deutschland an die führt haben.

Wenn Sie von den Deutschen sprechen, wen meinen Sie da eigentlich?

Uns alle. Die Bürger genauso wie die Eliten, also beispielsweise Politiker. Natürlich gibt es Ausnahmen, das sind die, die letztlich den Karren noch ziehen – beispielsweise erstklassige Familienunternehmen, viele Einzelhändler, Wissenschaftler etc. Auch das duale Bildungssystem ist eine gute Sache. Aber jeder und jede einzelne von uns muss sich fragen, was er oder sie für unser Land tun kann.

Ihre Diagnose zur Lage der Nation ist grundsätzlich nicht neu: Bereits vor 25 Jahren beklagte Bundespräsident Roman Herzog in seiner ersten „Berliner Rede“, die als „Ruck-Rede“ bekannt wurde, den „Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression“.

Es hat sich in den vergangenen 25 Jahren tatsächlich so gut wie nichts bewegt. Aber jetzt ist keine Zeit mehr. Ich glaube, dass wir wieder eine Sorgfaltsoffensive brauchen. Wir müssen wieder sorgfältiger mit den Dingen umgehen, die uns anvertraut sind. In allen beruflichen Bereichen, aber auch im Privaten. „Reicht schon“, reicht eben nicht! Es braucht den unbedingten Willen zur Spitzenleistung. Deutschland ist im Begriff zu verkommen, wenn wir nicht bald die Wende schaffen.

Ist es nicht erstaunlich wie gelassen und stoisch ruhig die meisten Deutschen diese Entwicklung, all die Krisen und die sich immer höher türmenden Problemberge ertragen?

Vielleicht liegt das auch daran, dass sie nicht alles wissen, weil man es ihnen verschweigt, weil sie über das wirkliche Ausmaß der Lage im Unklaren gelassen werden.

Uns die Wahrheit zu sagen und entsprechend zu handeln wäre die Aufgabe der Politik.

Es fehlt aber an politischem Mut, die Wahrheit zu sagen, und es fehlt an dem Willen und der Fähigkeit unserer Volksvertreter, uns Zusammenhänge zu erklären. Aber immer weniger wird noch benannt, wie es ist. Es wird verschwiegen oder beschwichtigt oder verharmlost. Man redet die Probleme klein. Die Politik ist ideologisch getrieben und in Krisen weitgehend hilflos. Das hat sich an Corona genauso gezeigt wie an der Flutkatastrophe oder dem chaotischen Abzug aus Afghanistan. Sicher ist die Welt heute komplexer geworden, aber diese Feststellung darf nicht für alle Missstände als Entschuldigung dienen. Dass zu wenige Lehrer eingestellt wurden, dass ein Teil der Schulgebäude seit Jahrzehnten nicht saniert wurde und dass es viel zu wenige Sozialwohnungen gibt, das sind hausgemachte Probleme. Dafür tragen die gewählten Politiker die Verantwortung. Ziel ist der Machterhalt um jeden Preis und nicht mehr die beste Politik gegen alle Widerstände, auch auf die Gefahr hin, dass sie Amt und Würden kostet. Ich kann nur alle Bürger dazu aufrufen, genauer hinzuschauen was die Politik tut und was sie lässt. Vor allem was sie lässt. Und wir bräuchten einen sehr viel stärkeren Austausch zwischen Politik und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft. Stattdessen tut die Politik immer noch so, als könnte sie alle Probleme lösen. Politik braucht den Sachverstand von außen und das hat sie noch nicht gelernt.

Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, heißt es. Wollen wir belogen werden? Wer hat schon gerne Sorgen.

Die Gruppe der Gleichgültigen ist die stärkste Kraft im Land. In ihr haben sich die meisten gut eingerichtet. Man hat sich an den Wohlstand gewöhnt und da will man natürlich nicht aufgeschreckt werden, sondern lieber weiterhin in aller Ruhe in der Hängematte schaukeln und nicht rausgeworfen werden. Betreuung ist eben für viele Deutsche noch immer die beste Art, regiert zu werden. Aber ich habe schon den Eindruck, dass es eine starke Minderheit gibt, die die Herausforderungen sieht und auch möchte, dass wieder offene Debatten geführt werden. Jeden Tag wächst die Zahl der Leute im Land, die spüren, dass die Wohlfühltage zu Ende gehen und, dass man den Beschwichtigungsformeln von Entscheidern, die verlernt haben zu entscheiden, keinen Glauben mehr schenken sollte. Immer mehr Menschen haben immer mehr Fragen, auf die sie keine Antwort bekommen.

Als ich kürzlich im Freundeskreis gefragt habe, wer sich ein paar Vorräte für den Fall eines Blackouts angeschafft hat, war die einhellige Meinung: Wenn es tatsächlich soweit kommt, wird sich die Bundesregierung schon etwas einfallen lassen.

Dieses betreut sein wollen, der Staat kümmert sich, war ein Wesensmerkmal der DDR – mit allen diktatorischen Einschränkungen natürlich. Und diese Haltung, die es schon immer gab und letztlich menschlich ist, hat sich nach der Wiedervereinigung im gesamten Deutschland verstärkt. Worte und Sätze von Bundeskanzler Olaf Scholz wie „Doppelwumms“ und „Whatever ist takes“ (Was immer nötig ist) halte ich genau deshalb als Botschaft für ziemlich gefährlich, weil beim Bürger das Gefühl erzeugt wird, dass es der Staat schon richten wird. Unter dem Motto: Wir puffern alles ab, nach mir die Sintflut. Bezahlen werden die Rechnung dann die künftigen Generationen. Der verantwortungslose Umgang mit dem Geld der Menschen ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund für die wachsende Politikverdrossenheit im Land. Das Schlimme ist: Die Politiker lernen nichts aus ihren Fehlern und verschwenden weiter das Geld, das ihnen nicht gehört. Der Dumme ist der Steuerzahler.

Stichwort Bürgergeld.

Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die in diesem Land arbeiten und Steuern bezahlen.

Machen Sie es besser und gehen Sie in die Politik.

Nein, nein, das war nie eine Option. Weil ich den politischen Betrieb zu gut kenne und weil ich glaube, dass ich auch von der Kompromissfähigkeit, die man da braucht, einfach nicht das passende Naturell habe. Das würde zu keinem Ergebnis führen, außer, dass ich dauernd unzufrieden wäre und meine politischen Mitkämpfer ebenfalls. Nein, das ist mir nie in den Sinn gekommen. Auch das politische System, wie es seit Jahrzehnten sein Personal rekrutiert, ist an seine Grenzen gekommen. Diese Ochsentour über Orts- und Kreisverband, über Parteivorstand – das ist ein System, das auf Dauer nicht überlebensfähig ist und das dazu führt, dass häufig Leute in die Politik gehen, die vorher keinen Beruf gelernt oder zumindest nicht ausgeübt haben. Das führt dann, wenn man ein Mandat hat, Abgeordneter geworden ist, relativ schnell dazu, dass man abhängig ist, weil man beruflich ja keine Alternative hat. Aber eines ist mir an dieser Stelle, bei aller Kritik, die ich an Politikern übe, schon wichtig zu sagen: Ich habe noch nie Politiker-Bashing betrieben. Das sind Leute, die engagieren sich, die müssen sich beschimpfen lassen, die haben kein Wochenende – ich kenne viele Vorstandsmitglieder von Unternehmen, die sind längst auf dem Golfplatz, während Politiker noch malochen. Trotzdem muss man Kritik aussprechen dürfen.

Sie nennen das Thema Gendern in Ihrem Buch eine „Ersatzhandlung“, ein „weiches Thema, mit dem sich Stimmung machen lässt“. Wie meinen Sie das?

Haben wir wirklich keine anderen Sorgen? Wer sich nur mehr mit den Gendersternchen und Binnen-I beschäftigt, liefert den Beweis, dass er vor den großen Problemen unserer Zeit kapituliert hat. Warum hat niemand den Mut, es klar zu sagen: Diese Genderdebatte ist angesichts der enormen Probleme, die unsere und künftige Generationen zu bewältigen haben, so überflüssig wie ein Kropf.

Verglichen mit anderen Ländern: Warum geht bei uns alles besonders langsam?

Weil bei uns die Bürokratie, der Deutschen hässlichstes Kind, mit ihrer langen Tradition sehr viel stärker ist, als in anderen Ländern Europas. Und wir haben uns in dem bürokratischen Korsett schon so eingerichtet, dass wir da kaum mehr rauskommen. Die Bürokraten haben sich inzwischen so breit gemacht, dass sie in jeden Lebensbereich hineinragen. Wenn mir heute Ärzte erzählen, wie viel Zeit sie mit bürokratischem Unsinn aufwenden müssen, dann ist das nur ein Beispiel. Der Politiker kann versprechen, der Bürokrat kann verhindern. Er hat mehr Macht als der Politiker, weil wir ihn nicht wählen und nicht abwählen können. Die Bürokratie hätte das Potential, unsere Gesellschaft lahmzulegen. Bürokraten machen unser Land träge.

Eine Lösung bleiben Sie schuldig.

In meinem Buch geht es nicht darum, Rezepte oder Programme zu entwickeln, sondern Gedanken zu sammeln, aus denen sinnvolles Tun entstehen könnte. Als Beobachter fühle ich mich nicht dazu berufen, passgenaue Lösungen für diese Themen zu finden. Das ist auch nicht meine Aufgabe als Journalist. Und da fehlt mir auch die Kompetenz. Ich bin nicht der Leiter eines Reparaturbetriebs für politisches Versagen. Mir geht es um die Diagnose, die Therapie „So nicht! Klartext zur Lage der Nation“ von Sigmund Gottlieb ist erschienen im Langen-Müller-Verlag (ISBN 978-3-7844-3598-5) müssen Berufenere finden. Alle sind gefragt, die eigene Haltung zu überdenken und sich mehr auf sich selbst als auf die Fürsorge des Staates zu verlassen – wir haben keine Zeit mehr. Und der Krieg gegen die Ukraine lehrt uns, dass Wohlstand alles andere als selbstverständlich ist und dass die Geschichte vom guten und immer besseren Leben über Nacht zu Ende erzählt sein kann.

Vielen Dank für das Gespräch.