Dr. Nedopil: “Mord kann jeder”

von Eva Bistrick

Deutschlands bekanntester Gerichtsgutachter, Prof. Dr. Norbert Nedopil aus Baldham, über Mord und Totschlag, psychotische Politiker und den Abgrund, der in jedem von uns steckt:

Herr Prof. Dr. Nedopil, Sie haben über 40 Jahre lang als forensischer Psychiater in menschliche Abgründe geblickt. Was fasziniert Sie an diesem Beruf?

Ich finde die Abgrenzung zwischen böse und gestört spannend. Um es mit Nietzsche zu sagen: Ich will so lange in Abgründe schauen, bis der Abgrund zurückschaut.. Mich treibt dabei die menschenkundliche Neugier. Moral spielt für mich in dieser Situation keine Rolle.

Ihr Fachgebiet sind sadistische Mörder oder fanatische Bombenleger – stoßen Sie dabei nicht gelegentlich an die Grenzen Ihrer Belastbarkeit?

Zunächst einmal wird man natürlich Psychiater, bzw. Arzt, weil man etwas Negatives ins Positive wenden will, und das war auch für mich ein Auslöser um diesen Beruf zu ergreifen. Mein Professor sagte damals: „Forensik ist die Krone der Psychiatrie.“ Für mich war das auch deshalb spannend, weil in diesem Bereich noch wenig geforscht wurde, und ich ein weißes Feld auf der Karte der Wissenschaft beackern durfte. Generell bin ich ein lebensbejahender, optimistischer Mensch und weiß mein eigenes Glück nicht zuletzt durch meinen Beruf noch mehr zu schätzen. Dennoch ist das, was ich mache, sicherlich für die meisten Menschen mehr als grenzwertig und in manchen Fällen auch für mich eine Belastung. Ich habe Dinge gehört, die Sie sich nicht vorstellen können. Täter, die im Kreislauf ihrer Taten so gefangen waren, ohne jegliche Aussicht auf Heilung. Dann merkt man: Dem kann nicht geholfen werden. Einer davon, der Fernfahrer Volker E., den der Todeskampf von Frauen sexuell erregt hat, hat mindestens acht Prostituierte gequält und ermordet. Er wusste, dass er seine Neigung nie abstellen können wird und dass sie auch kein anderer abstellen kann. Volker E. sagte zu mir: „Wenn ich jetzt nicht gefasst worden wäre, dann wäre schon noch was dazugekommen.“ Letztlich hat er sich in seiner Verzweiflung umgebracht.

Was war das Erschreckendste, an das Sie sich erinnern?

Anfangs habe ich noch KZ-Opfer begutachtet. Da habe ich in Abgründe geschaut, die man keinem zumuten kann. Oder ein anderer Fall: Einmal habe ich mit einem Mann gesprochen, der seine Frau umgebracht hat. Sie war Masochistin, er ein Sadist. Eigentlich möchte man meinen: Da haben sich die zwei Richtigen gefunden. Doch die Beiden hatten keine klaren Grenzen abgesteckt, wie das sonst bei solchen Paaren üblich ist. Als er beim Liebesspiel mit dem Messer auf sie einstach, waren ihre letzten Worte: „Jetzt machst Du es richtig, Tiger!“ Das ist schon extrem heftig. Ansonsten betrachte ich alles eher sachlich und professionell. Worüber ich mich aber tatsächlich bis heute echauffieren kann, ist, wenn Partner im Rosenkrieg ihre Kinder instrumentalisieren und mit in die Streitigkeiten hineinziehen. Das kommt übrigens in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Ich habe auch schon erlebt, dass ein Ehemann das gemeinsame Kind getötet hat, weil er es der Frau nicht gönnen wollte, die ihn verlassen hat. Was lässt Menschen zum Mörder werden? Wenn Sie im passenden Moment am richtigen Hebel ziehen, kann jeder von uns zum Mörder werden – nehmen Sie beispielsweise eine Mutter, die ihr Kind vor einem Angreifer beschützen will. Wir haben einen Selbsterhaltungstrieb und das ist auch gut so. Grundsätzlich beziehen sich sechs der zehn wichtigsten Risikofaktoren dafür, später kriminell zu werden, auf die Familie: Verwahrlosung, Drogen, Kriminalität und Gewalt bei den Eltern, vieles davon wird einem in die Wiege gelegt.

Norbert Nedopil, fotografiert von Robert Fischer

Was bewirkt die Gewalt, die im Internet oder auf dem Handy ständiger Begleiter ist, bei Kindern?

Brutalität zu sehen, macht allein noch keinen Täter. Es kommt immer auf die persönlichen Anlagen und auf die Umgebung an. Wenn jemand anfällig ist und bereits Gewaltfantasien hat, dann spielt so etwas eine Rolle, weil die Fantasien noch bestärkt werden. Wie beim Münchner Amokläufer, der sich mit dem Betrachten von „Columbine Highschool“-Videos regelrecht hochgepusht hat. In so einem Fall kann der Konsum zusätzlicher Gewalt Hemmungen abbauen. Aber wenn jemand keine entsprechenden Neigungen hat, haben auch Shooter-Spiele keine nachweisbaren Effekte auf die Gewaltbereitschaft.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie einem Täter gegenübersitzen?

Ich bin grundsätzlich immer mit persönlich-professionellem Interesse bei der Sache und sehe Menschen ohne Vorbehalte. Für mich besteht der Kick darin, mit meiner wissenschaftlichen Neugierde von diesem Menschen Dinge zu erfahren, die andere vor mir so noch nicht von ihm gehört haben. Bei echten Verbrecherprofis ist das übrigens durchaus eine Herausforderung. Da sitzt man sich gegenüber und beide Seiten warten nur darauf, wer den ersten Fehler macht. Mit dem größten Nervenkitzel verbunden war der Fall des Österreichers Franz Fuchs, der zwischen 1993 und 1997 zahlreiche Anschläge mit Brief- und Rohrbomben verübt hat. Erstens, weil er sehr gescheit war, zweitens auch ein bisschen verquer und er sich drittens zunächst geweigert hatte, mich zu sprechen. Ihn zu knacken war eine harte Nuss. Medien urteilen schnell.

Ärgert Sie das?

Medienkritik gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich muss ein Gutachten erstellen und lasse mich dabei nicht von äußeren Einflüssen leiten. Ich hatte einmal einen Fall, da hat ein Koch einen Kollegen getötet und zerteilt – der war in den Medien gleich pervers. Ich stellte eine andere Frage: Vielleicht ist ein einzelnes Bein einfach leichter zu transportieren als ein ganzer Körper? Der Täter muss nicht gestört sein.

Kann man es einem Menschen ansehen, ob er ein Mörder ist?

Gar nicht. Oft werden die Menschen, die ich begutachten soll, von Polizisten hereingebracht. Wenn sie den Polizeibeamten in Zivil neben dem Verdächtigen ohne Gefangenenkleidung sitzen sehen, erkennen sie meist keinen Unterschied. Ich gehe davon aus, dass Ihnen Straftäter nicht gerne die Wahrheit sagen? Ich werde dauernd angelogen. Und ich muss die Leute ja auch zum Lügen verleiten. Ich darf sie nicht gleich mit den Widersprüchen konfrontieren und sagen: In den Akten steht doch das und das. Sonst komme ich nicht drauf, wie viel einer lügt. Jeder Mensch lügt am Tag übrigens ungefähr 30 Mal. Schon wenn man gefragt wird, ob es einem gut geht, sagt man kaum die Wahrheit.

Norbert Nedopil, fotografiert von Robert Fischer

Wurden Sie jemals angegriffen?

Noch nie. Natürlich ist man am Anfang seiner Laufbahn nervös, aber das war mehr eine lampenfieberartige Anspannung. Ich glaube aber nicht, dass ich leichtsinnig bin. Ich versuche immer präventiv die Brisanz aus der Situation zu nehmen und lasse z.B. in speziellen Fällen die Tür zum Vorraum, wo der Polizeibeamte sitzt, einen Spalt offen. Die Probanden spüren vor allem meine Unvoreingenommenheit und dass sie ernst genommen werden, Daraus entsteht Beziehung, die Aggressionen entgegenwirkt. Ein Beispiel: Menschen, die schon einmal von einem Hund gebissen wurden, reagieren anders auf einen Hund. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gebissener erneut gebissen wird, ist sehr hoch, weil der Hund spürt, das sie nicht mehr unvoreingenommen sind. Das gilt auch für Gewalttäter. Frauen, die schon einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, haben ein deutlich höheres Risiko, dies noch einmal zu erleben, weil sie eine Verwundbarkeit ausstrahlen, die potentielle Täter spüren. Wenn man den Menschen mit Respekt aber auch mit Selbstbewusstsein gegenübertritt, hat man schon viel gewonnen.

Sie entscheiden mit Ihren Gutachten unter anderem darüber, ob ein Täter im Gefängnis eingesperrt wird, in psychatrische Behandlung kommt oder in die Freiheit entlassen wird. Haben Sie Angst vor Fehlentscheidungen?

In meinem Leben habe ich sicherlich schon über 400 Prognosen abgegeben und man trifft dabei häufig Fehlentscheidungen – vor allem aber zu Lasten des Täters. Jemand wegzusperren, der eigentlich frei sein müsste, ist nämlich auch Unrecht. Unsicherheit geht aber in den meisten Fällen zu Lasten eines Täters. Die Sicherheit der Anderen hat Vorrang – auch für den forensischen Psychiater.

Welche Bedeutung hat Angst für Sie?

Ich bin kein ängstlicher Mensch, und ich trage meine Fälle auch nicht nach Hause. Ich habe weder die Freunde meiner Tochter beim Kennenlernen analysiert, noch interpretiere ich etwas in den Nachbarn hinein, der neben mir beim Metzger in der Schlange steht. Angst ist ein schlechter Ratgeber und verdirbt die Lebensqualität. Dennoch rate ich zur Vorsicht und würde bei Dunkelheit nicht unbedingt im Wald spazieren gehen. Man muss seine Mitmenschen ja nicht zu einer Straftat auffordern. Meine Tochter wollte Silvester einmal auf eine Party und hätte für den Heimweg nach Mitternacht drei Stunden am Salzburger Bahnhof auf einen Anschlusszug warten müssen. Da hab ich sie gefragt: Spielen wir hier „Einladung zur Vergewaltigung“, oder was soll das werden? Obwohl sie schon 19 Jahre alt war und sich eigentlich nichts mehr von ihrem Vater hätte sagen lassen müssen, hat sie das verstanden.

Jemand, der wie Sie Menschen bestens kennt – können Sie jemand ansehen, was er beispielsweise beruflich macht?

Nicht grundsätzlich, zumal viele Berufe auch Züge fordern, die von vielen als negativ oder gar typisch für Kriminelle gesehen werden. Nehmen wir beispielsweise Züge, die als psychopathisch bezeichnet werden. Die findet man auch bei Politikern. Dazu gehört das Durchsetzungsvermögen und die Fähigkeit zur Lüge. Natürlich auch Rücksichtslosigkeit, Dickfelligkeit. Regierungsverantwortliche müssen auch in Kauf nehmen, dass es Tote gibt. Denken Sie an den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Der musste bereit sein, die auch nach amerikanischem Recht unrechtmäßige Hinrichtung von Bin Laden (ohne gerichtliche Verurteilung) zu befehlen. So etwas gehört dazu. Und als Verteidigungsminister muss man wissen, dass es Leichen geben kann, wenn man Truppen in ein Kriegsgebiet schickt. Das darf ihnen dann nicht den Schlaf rauben. Und jetzt frage ich Sie: Wie weit sind diese Eigenschaften von jenen eines Menschen, der andere aus subjektiven Gründen tötet, entfernt? Die meisten Morde werden innerhalb der Familie oder vom Partner begangen. Jede Statistik muss zunächst richtig betrachtet werden. Die Hälfte aller Tötungen passieren innerhalb der Familie, das stimmt. 100 Frauen sterben im Jahr durch die Hand ihres Mannes. 400 Tötungen passieren in der Familie. Da sehen Sie, wie gefährlich das Familienleben ist. Nein, im Ernst: Wenn Sie die Zeit betrachten, die Sie mit Ihrer Familie, vor allem mit Ihrem Partner verbringen, ist es eigentlich ganz logisch, dass es dabei natürlich auch die meisten zwischenmenschlichen Konflikte gibt. Und wenn ich so manche familiäre Konstellation betrachte, wundert es mich, dass nicht mehr passiert.

„Die Abgründe lasse ich im Büro. Meine Familie bekommt davon nichts zu spüren. Wir sind eine recht lustige Familie. Das trägt.“

Norbert Nedopil

Weihnachten ist aus psychologischer Sicht problematisch. Warum ist das so?

Weihnachten ist u.a. auch die Zeit der Selbstmorde. Im Frühjahr häufen sich Sexualdelikte, im Winter gibt es dagegen mehr Depressionen, mehr Niedergeschlagenheit und mehr Missmut. Dazu kommen, insbesondere an Weihnachten, die hohen Erwartungen, die zwangsläufig viele Enttäuschungen nach sich ziehen. Alle wünschen sich ein unvergessliches Fest, doch das erstickt meist schon in der Hektik der Vorbereitungen. Und wenn wir dann Heiligabend mit all unseren unterschiedlichen Erwartungen beieinandersitzen, stürzt das Kartenhaus zusammen. Urlaub oder Pensionierung sind übrigens auch heikle Themen. Viele Menschen werden, wenn sie zur Ruhe kommen, ja auch erstmal krank.

Haben wir heute durch die allgegenwärtige Berichterstattung eine falsche Vorstellung davon, wie viel Böses wirklich in unserer Welt passiert?

Tatsächlich hat die Gewalt in Deutschland deutlich nachgelassen. Vor der Jahrtausendwende gab es 2,3 Tötungsdelikte pro 100.000 Bürgern, jetzt sind es 0,8. Auch die Zahl der Vergewaltigungen nimmt ab. Das liegt natürlich auch daran, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Wir sind allgemein älter geworden und jüngere Menschen sind tendenziell gewalttätiger, wir haben aber auch eine effektivere Polizei und wir halten andere Werte für wichtig. Viele Gepflogenheiten, die zur Gewalt antreiben, sind heute nicht mehr relevant. Alte Riten und Verpflichtungen, wie z. B. den hingeworfenen „Fehdehandschuh“ oder den „Ehrenmord“, gibt es nicht mehr. Heute spielt das Einfühlungsvermögen in unseren Idealen und in unserer Kommunikation eine größere Rolle. Wir sprechen eher miteinander und versuchen uns in den anderen hineinzuversetzen, statt uns wie in der Vorkriegszeit bis aufs Blut verteidigen zu müssen. Insofern ja, die Wirklichkeit ist nicht so schlecht, wie sie in den Medien vermittelt wird.

Sie haben viel gesehen und erforscht. Gibt es noch etwas, was Sie reizen würden?

Es ist noch viel zu wenig untersucht worden, was eine Tat mit den Angehörigen des Täters bzw. des Opfers macht. Eine Tat verändert so viel im Umfeld von Täter und Opfer, dass es wert wäre, das zu erforschen. Ein anderes spannendes Thema: Wann muss man eigentlich mit der Prävention anfangen? Studien haben gezeigt: Bereits in der Schwangerschaft wird im Mutterleib das Verhalten eines Menschen beeinflusst – wie bei dem Suchtgedächtnis des Babys einer Heroinsüchtigen. Wenn die Mutter während der Schwangerschaft über einen längeren Zeitraum großen Stress hat, etwa durch den Tod ihres Partners, und sie dabei keine Unterstützung erfährt, um den Stress zu bewältigen, prägt das den Neugeboren – neben den erblichen Anlagen. Das harmloseste Ergebnis ist da noch, dass das Kind mehr schreit oder an ADHS leidet. Was Freud über die Beziehungsebene im Kindesalter gesagt hat, stimmt heute in gewisser Weise wieder – doch was wirklich interessant ist, dass die Entwicklung eines Kindes vor seiner Geburt bereits dazu beitragen kann, dass später Aggressionsneigung oder eine verminderte Bereitschaft, sich an Normen zu orientieren, eintritt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Jeder Mensch hat seinen Abgrund von Norbert Nedopil, Goldmann Verlag

Prof. Dr. Norbert Nedopil lebt mit seiner Frau, einer Realschullehrerin, seit 1992 in Baldham. Der Vater von drei erwachsenen Kindern war zunächst als Professor in Würzburg tätig, bevor er nach München berufen wurde. Mehr als 20 Jahre lang leitete der 72-Jährige die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Vergewaltiger, Terroristen, Kindermörder, er hat sie alle gesprochen und unter anderem Gutachten über Beate Zschäpe und Gustl Mollath erstellt.