Hungern ist gesund

von Markus Bistrick

In einem gesunden Körper soll ein gesunder Geist wohnen. Doch der ist bis heute bei vielen bloß Untermieter. Der Mensch isst, was ihm gut tut: Zucker für die Seele, Fett für die Nerven. Die Dosis macht bekanntlich das Gift. Allein in Bayern gibt es über 1,2 Millionen „Zuckerkranke“. Unterschieden wird zwischen Typ 1 und Typ 2, wobei vor allem Letzterer als Wohlstandskrankheit gilt, weil die Erkrankung viel mit unserem Lebensstil zu tun hat. Weniger bekannt ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Diabetes und Krebs gibt. Diese Erkenntnis ist unter anderem dem Wahl-Vaterstettener Stephan Herzig zu verdanken. Und, dass fasten und hungern – das sogenannte Intervallfasten – gut für unsere Gesundheit sein kann.

Seit jeher versuchen wir, die Grenzen des Wissens zu verschieben. Entdecker erkundeten fremdes Terrain, Philosophen suchen neue Gedanken, Himmelskundige deuten die Lichter am Firmament. Die Neugier des Menschen scheint keine Grenzen zu kennen, unerschöpflich wirkt seine Sehnsucht, das Unbekannte zu begreifen. In den vergangenen Jahrhunderten hat die Menschheit ein besonderes Instrument erschaffen, um diesen Drang nach Erkenntnis zu lenken: die Wissenschaft. Heute arbeiten Millionen von Forschern rund um den Globus – vom Professor bis zum Doktoranden. Allein in Deutschland gibt es rund 500.000. Ihre Aufgabe ist es, Fragen zu stellen. Stephan Herzig ist so ein Fragensteller. Ein äußerst ambitionierter und eine Koryphäe seines Fachs.

Als Direktor des Helmholtz Diabetes Zentrums in München mit rund 1000 Mitarbeitern und seines eigenen Instituts Diabetes und Krebs, will der 53-Jährige Vaterstettener Neues entdecken – unbekannte Mechanismen, Moleküle und Funktionalitäten. Im Zentrum seiner Forschung stehen Volkskrankheiten wie Adipositas und Diabetes und deren Langzeitfolgen, einschließlich Krebs.

Wichtig ist, wie man isst, sagt Stephan Herzig. Also ausgewogen und am besten 16 zu 8. Heißt: Zwischen der letzten Mahlzeit des Vortages und der ersten Mahlzeit des Tages liegen 16 Stunden. In den acht Stunden, in denen man essen darf, werden zwei Mahlzeiten zu sich genommen. Erste experimentelle und klinische Daten zeigen, dass eine kontrollierte „Hungertherapie“ in der Tat positive Auswirkungen auf unseren Stoffwechsel nehmen kann. Letztlich heißt das, ein bisschen mehr so zu leben wie ganz früher. Schon seit der Steinzeit ist der menschliche Stoffwechsel auf Fastenphasen eingestellt. Denn als die Frische-Theke noch nicht rund um die Uhr geöffnet hatte, sondern zunächst ein Mammut vorbeikommen und dann noch erfolgreich erlegt werden musste, blieb der Magen für einige Stunden oder Tage leer. Da war der Hunger ständiger Begleiter und sportliche Betätigung gefragt. Unser Körper braucht zur Anpassung eben, falls überhaupt möglich, dramatisch länger als ein iPhone-Modellwechsel. Das alles würde Stephan Herzig so natürlich nicht sagen, auch wenn es im Kern richtig ist.

Der entscheidende Unterschied von Intervallfasten zu längeren Fastenkuren oder Crash-Diäten: Der Stoffwechsel wird nicht gedrosselt, die Muskelmasse nicht abgebaut. Das ist wichtig, denn dadurch wird der gefürchtete Jo-Jo-Effekt vermieden. Und, das ist Herzigs Thema: Durch das Fasten kommt es außerdem zu heilsamen biochemischen Veränderungen im Körper, etwa zu einem verbesserten Zucker- und Fettstoffwechsel. Ziel seiner Forschung ist es, die Steuerung des Hungerstoffwechsels auf genetischer und molekularer Ebene zu verstehen, um damit neue Ansatzpunkte nicht nur für das Verständnis der Entwicklung von Stoffwechselkrankheiten zu erhalten, sondern auch die Grundlage für eine „hunger-basierte“ Vorbeugung oder Therapie dieser Erkrankungen zu schaffen.

Nun muss man sich den gebürtigen Bremer nicht so vorstellen, wie man das Bild von Professoren gemeinhin malt. Weißer Kittel, Pipette in der Hand, ein Auge am Okular, die andere Hand an der Objektivfixierung. Eher schreckhaft und in der Sprache für den Laien so verständlich wie die Menüführung des Bezahlsenders SKY. Nein, Stephan Herzig ist wie du und ich. Jedes Wochenende euphorisch an der Seitenlinie, weil alle drei Söhne aktiv beim SCBV Fußball spielen, in der Erziehung von Apollo, dem weißen Familien- Schäferhund, symphatisch hilflos und auch sonst ohne jegliche Berührungsängste.

Herzig, äußerst kommunikativ und herrlich bodenständig, mit Lehrstuhl an der Technischen Universität München (TUM) und Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg, gibt seinen Enthusiasmus und seine Erfahrungen gerne weiter und engagiert sich in verschiedensten Bereichen für wissenschaftlichen Austausch. Ein Lehrer-Elternhaus ist eben prägend, auch wenn der Wahl-Vaterstettener nach seinem Biologie- und Geographie- Studium dann doch in die Forschung abgebogen ist. Ihn interessieren die Wechselwirkungen zwischen Stoffwechsel und Krebs – weniger Herbarium und Diercke Weltatlas.

Stephan Herzig promoviert wie seine spätere Frau Anja in Göttingen in molekularer Pharmakologie. Zusammen gehen beide von 2000 bis Ende 2003 in die USA an das renommierte Salk Institut for Biological Studies in La Jolla. Als Postdoktoranden. Wer nach der Promotion eine Karriere in der Wissenschaft anstrebt, muss durch die oft unsichere, sogenannte Postdoc-Phase. In Kalifornien schärft Herzig sein wissenschaftliches Profil, baut Netzwerke auf und sammelt die erforderlichen wissenschaftlichen Qualifikationen.

Wissenschaft funktioniert nach anderen Gesetzen als die Wirtschaft. In der Forschung zählen neue Erkenntnisse und die Anerkennung der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Form von Auszeichnungen, Jobangeboten und Einladungen zu wichtigen Kongressen mehr als finanzieller Gewinn. Wer eine akademische Karriere machen möchte, steht unter dem Druck, Ergebnisse zu produzieren. „Publish or perish“: Veröffentliche etwas oder gehe unter. Die Logik dieser Mengenlehre wird unter anderem am sogenannten Hirsch-Faktor deutlich, einer wichtigen Messgröße in der akademischen Welt. Sie gibt darüber Auskunft, wie viele Aufsätze jemand in anerkannten Fachzeitschriften veröffentlicht hat und wie oft diese von Kollegen zitiert werden: Je höher beide Werte, desto größer der Hirsch-Faktor, das Renommee des Wissenschaftlers. Stephan Herzig beherrscht beides. Veröffentlichung und Auszeichnung, aber eben auch Ergebnisse, wie wir Laien sie von der Wissenschaft erwarten.

Was Herzig noch erreichen möchte, wollen wir abschließend wissen: „Eines unserer eigenen Forschungsergebnisse erfolgreich in die klinische Anwendung im Bereich der fettleibigkeitsbedingten Stoffwechselstörungen und der Krebskachexie zu bringen.“ Wir drücken die Daumen – nicht ganz uneigennützig.

Prof. Dr. Stephan Herzig promovierte 1999 an der Universität Göttingen und forschte anschließend am renommierten Salk Institut in La Jolla ( Kalifornien). Ab 2004 baute er am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg eine unabhängige Nachwuchsgruppe auf. Seit Januar 2015 ist der leidenschaftliche Familienmensch Direktor des Instituts für Diabetes und Krebs am Helmholtz Zentrum München und Lehrstuhlinhaber für Molekulare Stoffwechselkontrolle an der TU München.