Quelle: Ilona Stelzl

Eine Apotheke in drei Akten

von Eva Bistrick

Spätestens mit 50 Jahren wollte Dr. Andrea Gerdemann eine eigene Apotheke haben. So der Wunschtraum. Jetzt ist sie 50 und hat 3 Apotheken. Zum Jahresbeginn übernahm die gebürtige Münsteranerin die Elch und Margareten Apotheke in Vaterstetten sowie die Anker Apotheke in Haar von Tobias König. Heuer jährt sich das 60-jährige Bestehen der Anker Apotheke, mit der einst alles begann. LIVING&style im Gespräch mit Andrea Gerdemann, Tobias König und Adelheid Schulze-Sölde, deren verstorbener Gatte Joachim die Apotheke 1961 an der Waldluststraße baute und sie zur umsatzstärksten Apotheke im Münchner Osten machte. Seither hat sich vieles verändert – doch einiges wurde auch bewahrt.

„Früher hatten wir mehr Vierbeiner als Zweibeiner“, beginnt Adelheid Schulze-Sölde ihre amüsante Erzählung. Und es macht wirklich Freude, ihren Anekdoten aus der Vergangenheit zu lauschen. Sie deutet auf eines von vielen Schwarzweiß-Fotos, die sie auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hat. Eines zeigt die Anker Apotheke in den 60er Jahren – davor keine Straße, sondern ein weites Feld, voller weidender Schafe. Ein anderes zeigt ihren Mann Joachim, geboren 1924 in Berlin mit Vorfahren aus Sölde, einem südöstlichen Stadtteil von Dortmund, in einer schneidigen Marine-Uniform und spitzbübischem Lachen. Die Marine ist auch der Grund für den Namen „Anker Apotheke“. Er war durch glückliche Zufälle und gute Kontakte an das Grundstück gekommen und erbaute dort, mit Start der so genannten „Niederlassungsfreiheit“, seine Apotheke. Zuvor war es einem Apotheker nicht erlaubt, einfach eine Apotheke zu bauen – dazu brauchte es noch eine Konzession. 

ZU BEGINN NOCH OHNE TELEFON

 Adelheid Schulze-Sölde, die ihren Mann 1964 mit 24 Jahren kennen lernte, arbeitete als PTA in der Apotheke mit. „Ein Telefon hatten wir in den Anfängen nicht,“ schmunzelt sie. „Joachim ist dann immer ins nächste Telefonhäuschen um die Ecke spaziert und hat dort seinen Bestellblock vorgelesen.“ Heute, im Zeitalter von Online- Apotheken und modernster Technik kaum mehr vorstellbar. „Wir haben tatsächlich Mitarbeiter, die schon bei uns angefangen haben und jetzt, wo Frau Gerdemann die Apotheke in dritter Generation leitet, als Urlaubsvertretung wiederkommen.

 „Man war damals stolz, in der Apotheke arbeiten zu dürfen“, berichtet Schulze-Sölde. „Die Mitarbeiter wurden morgens mit einem Handschlag begrüßt und abends – pünktlich um 18.30 Uhr wieder mit einem Handschlag vom Chef verabschiedet.“ Eine Betriebszugehörigkeit von 20 oder gar 30 Jahren war in der Anker Apotheke keine Seltenheit. 

Diesen familiären Charakter möchte auch die heutige Besitzerin Dr. Andrea Gerdemann erhalten. „Ich lege sehr großen Wert darauf, dass das Team zusammenpasst, und jeder einzelne gerne hier arbeitet“, betont sie, und man spürt, das ist ehrlich gemeint. „Wir verbringen viel Zeit miteinander. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich für seine Teamkollegen interessiert und sich gegenseitig unterstützt.“

 „IN DER APOTHEKE MUSS MAN AUCH SEELENTRÖSTER SEIN“ 

Die Corona-Jahre waren besonders für die Apotheken eine große Herausforderung. Doch auch Abstand und Plexiglasscheiben änderten nichts am warmherzigen Umgang mit den Kunden. Allerdings ist vieles, das früher niemanden interessierte, heute streng reglementiert. „Bei manchen Ärzten habe ich es schon erlebt, dass Patienten aus Datenschutzgründen nur noch mit Nummern aufgerufen und angesprochen werden – das ist doch ein Unding!“ Schulze-Sölde, die die Apotheke an Gerdemann vermietet hat, pflichtet ihr bei: „In der Apotheke muss man auch ein Seelentröster sein. Das geht schlecht durch eine Trennscheibe. Wenn ein Kunde weint und verzweifelt ist, kann man ihn nicht trösten. Als es vor rund 20 Jahren in der Werbung plötzlich hieß: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, war das eine Auszeichnung für uns.“ „Wir haben viele Stammkunden, die uns teilweise schon seit 40 Jahren die Treue halten“, berichtet Gerdemann begeistert. Letztlich steckt hier ja auch das Alleinstellungsmerkmal, das eine „echte“ Apotheke von einer im Internet unterscheidet. Auf das Geschäftsmodell angesprochen, meint Gerdemann: „Es ist beileibe nicht so, dass die Online-Apotheke schneller liefert. Bei uns kann man per App bestellen und wir liefern die Medikamente auch kostenlos nach Hause. Am gleichen Tag. So schnell ist kein Onlineanbieter. Außerdem gibt es außerhalb der Öffnungszeiten einen Abholautomaten. Aber natürlich freuen wir uns am meisten, wenn wir unsere Kunden persönlich begrüßen können.“ 

Genau wie Andrea Gerdemann, die auch als Chefin täglich vorn am Counter steht, war auch Joachim Schulze-Sölde immer sichtbar, immer präsent und nah am Kunden. „In Haar war er natürlich sehr bekannt. Wenn wir mal ausgingen, wurden wir ständig angesprochen. Irgendwann tauschte er seinen Hut gegen eine Baskenmütze, damit er nicht immer die lüpfende Bewegung machen musste.“ Nur mit dem traditonellen, 600 Jahre alten westfälischen Nachnamen Schulze-Sölde kamen die Bayern nicht recht klar. „Die Kunden nannten mich manchmal Frau Anker“, lacht die 82-Jährige. 

Tobias König, der auf Joachim Schulze-Sölde folgen sollte, war ein Schulfreund des ältesten Sohnes des Paares. Nach dem Abitur machte er ein Praktikum in der Anker-Apotheke, statt in der Apotheke seiner Eltern in Aschheim, bevor er Pharmazie studierte und die Apotheke mit 36 Jahren vollständig übernahm. Schon bald nach der Übernahme am 1. Januar 1999 modernisierte König die Anker-Apoheke: Zuerst kam das vollautomatische Warenlager, später der 24/7 Abholautomat, den es heute noch gibt und der sich außerhalb der Öffnungszeiten großer Beliebtheit erfreut. Der Mitarbeiterstamm wuchs stetig. 

Gerdemann kommt nicht aus dem klassischen Apotheker-Haushalt wie König, und sie ist auch nicht mehr 36 Jahre alt. Sie war in einer Apotheke in Ebersberg tätig, als sie Tobias König kennen lernte. „Die Chemie stimmte sofort,“ erinnert sie sich. „Ich habe mich gleich in das gesamte Team ‚verliebt‘. Die machen einen tollen Job, und die Strukturen und Prozesse, die Herr König in seinen Apotheken eingerichtet hat, funktionieren sensationell und erleichtern die Arbeit.“ 

Eben jener Chemie war es wohl zu verdanken, dass Gerdemann sogar ihre 50-Jahre- Apothekenregel über Bord werfen wollte, als sie hörte, dass König eigentlich erst in drei bis fünf Jahren aufhören wollte. Sie entschied, das abzuwarten. Doch dazu kam es nicht. Bevor sie ihre Entscheidung mitteilen konnte, rief bereits König an: „Lassen Sie uns das machen, genau so eine wie Sie, sind die richtige Nachfolgerin für mich.“ Gerdemann wohnt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ebersberg und nicht, wie die Schulze-Söldes damals, im ersten Stock der Anker Apotheke. Heute befinden sich dort verschiedene Büro- und Lagerräume. Die großzügige Küche, in der Adelheid Schulze-Sölde früher für ihre zwei Söhne kochte, ist als Rückzugs- und Pausenort für das Apothekenteam geblieben. Wie in einer echten Familie eben.