Packende Melodien, ein einzigartiger Charakter und ein unsterbliches Lebenswerk: Udo Jürgens begeisterte auf seinen Tourneen Millionen von Fans. Er sammelte Goldene Schallplatten wie andere Pilze und verkaufte rund 100 Millionen Tonträger. Es gibt weltweit nicht viele Künstler aus dieser Liga und Deutschsprachige wohl gar keine. Am 30. September 2019 wäre der Chansonnier und Frauenschwarm 85 Jahre alt geworden. Dass Udo Jürgens jemals abtreten könnte, war unvorstellbar. Nein, loslassen wollte er nicht. Völlig unerwartet starb der Ausnahmekünstler am 21. Dezember 2014. „Für meinen Vater war die Musik immer Nummer eins“, erinnert sich sein ältester Sohn John Jürgens im Gespräch mit LIVING&style. Er ist gerade einmal zwei Jahre alt, als sein Vater 1966, bei seiner dritten Teilnahme, den Eurovision Song
Contest gewinnt und mit dem Siegerlied „Merci, Chérie“ den internationalen Durchbruch schafft. Die Familie lebt zu diesem Zeitpunkt in der Johann-Strauß-Straße in Vaterstetten.
Vor einigen Jahren, John weiß das nicht mehr so genau, sei er noch einmal mit seiner Mutter
Erika, genannt Panja, die in Zürich wohnt, nach Vaterstetten gefahren. Auf der Suche nach der gemeinsamen Vergangenheit. Das Haus, in dem die Familie bis Ende 1968 lebte, gibt es tatsächlich noch.
Von außen nahezu unverändert, was in einer Gemeinde, die fast täglich ihr Gesicht verliert, durchaus ungewöhnlich ist. Man sei damals die Johann-Strauß-Straße auf und abgegangen und habe in Erinnerungen geschwelgt. Bei den heutigen Eigentümern klingeln wollten die beiden Spurensucher
aber nicht, obwohl dort, wie unsere Recherche ergeben hat, noch immer das Ehepaar lebt, das das Einfamilienhaus seinerzeit Udo Jürgens abgekauft hat – ihn aber nie persönlich kennenlernte und bis heute keinen gesteigerten Wert auf Öffentlichkeit legt, wie wir nach einem Telefonat wissen.
Prüderie und Pille, APO und Adenauer, Beatmusik und Babyboom: Die sechziger Jahre gelten als Jahrzehnt gewaltiger gesellschaftlicher Umbrüche. „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum
Establishment“: Das Sponti-Motto hat das Verständnis der 60er geprägt. Die Hintergrund-Musik für die sexuelle Revolution lieferten Bands wie die Beatles, die Doors und die Stones. Die Sogkraft des Beat ließ
selbst den Rock‘n‘Roll der Fünfziger farblos erscheinen. In Windeseile mutierte die Musik der Beatniks zur Erkennungsmelodie einer jugendlichen Protestkultur, die Leistung und Konsum im fleißigen Wirtschaftswunderland verachtete, für Selbstbestimmtheit eintrat und den konservativen Politikstil Konrad Adenauers geißelte. Marx, Che Guevara, Lenin hießen die großen Idole einer Generation, die endlich
wissen wollte, was zwischen 1933 und 1945 in ihrer Heimat geschehen ist und ihre Eltern dafür hasste, dass sie die Nazi-Gräuel unter den neuen Fransenteppich kehrten. Doch die 60er waren weit mehr als Protest, Beat und freie Liebe: Der Toast Hawaii revolutionierte die deutsche Esskultur ebenso wie der Fernseher das Familienleben und der VW-Käfer die Wochenend-Gestaltung. Die Menschen glaubten noch
uneingeschränkt an den technologischen Fortschritt und fanden die Atomenergie mindestens genauso prima wie Audrey Hepburn in „Frühstück bei Tiffany“. Mauerbau und Kuba-Krise, Prager Frühling
und Mondlandung, Vietnam-Krieg und erste Herztransplantation – all diese Ereignisse wühlten die 60er Jahre auf – und machten sie zu einem der spannendsten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts.
Udo Jürgens ist damals 24 Jahre alt und in München-Untermenzing daheim. Er träumt von George Gershwins Jazz-Standards und schreibt bereits Songs für große Sänger, für Sammy Davis Jr., Bing Crosby,
für Sarah Vaughn. Shirley Bassey sang bereits sein „Reach for The Stars.“ Doch der große Durchbruch ließ noch auf sich warten. Irgendwann in dieser Zeit fand Udo Jürgens mit dem Münchner Medienmanager
Hans R. Beierlein den wichtigsten Mentor und Antreiber. Er erkannte in dem Musiker den Mann, der undeutsch performen sollte: am Klavier, eher französisches oder italienisches Flair verbreitend, sitzend, Liebeslieder singend, Geschichten aus dem Leben erzählend, mitreißend, melancholisch und frisch.
Niemand im Popunterhaltungsgewerbe war so nichtdeutsch wie dieser Österreicher –
kein Humtata, kein halbdelirierendes Mitklatschertum. Den entscheidenden Schub erhielt Jürgens’
Karriere mit der dreifachen Teilnahme am Grand Prix Eurovision de la Chanson. „Warum nur, warum?“, „Sag ihr, ich lass sie grüßen“ und „Merci, Chérie“ waren für den internationalen Markt geschrieben. Mit
letzterem Titel gewann er 1966 in Luxemburg, gegen die Lästerei der BILD-Zeitung, haushoch für Österreich. Aus der Bundesrepublik, nur nebenbei, gab es damals keinen einzigen Punkt.
In dieser Zeit ist der frisch gebackene Vater kaum zu Hause. Gerade mal zwei Monate pro Jahr verbringt Udo Jürgens bei seiner Familie in Vaterstetten. Denn seine Karriere geht durch die Decke: Nach dem Grand-Prix-Sieg jagt ein Hit den nächsten. Wie lange hatte er genau darauf gewartet? Ein Mann, 1934 in Klagenfurt in eine großbürgerliche Familie hineingeboren, für den nichts mehr zählte als die Musik, dem das Komponieren, das Sitzen am Flügel, das ganze rampensäuische Leben auf Tourneebühnen ein „Lebenselixier“ war und der sich das Klavierspielen selbst beigebracht hatte. „Dadurch, dass er so wenig da war, waren die Zeiten mit ihm sehr intensiv und herrlich albern. Weil wir diese wenigen gemeinsamen Momente so intensiv erlebt haben, mit sehr viel Kuscheln und unglaublich viel Liebe, wirkten sie rückwirkend noch viel größer.“ John Jürgens, Jahrgang 1964, der mit seiner Familie seit 2000 in Trudering wohnt, ist damals gerade zwei Jahre alt. Wir treffen ihn 53 Jahre später. Er ist erfolgreicher DJ mit eigenem Streaming-Kanal bei Radio Gong, vor allem aber mit Leib und Seele Ehemann und leidenschaftlicher Vater von drei Kindern (20, 19, 10). „Mein Sohn ist der beste Vater, den ich kenne. Ich bewundere ihn sehr, und er ist heute in dieser Beziehung eine Art Vorbild für mich“, bekannte Udo Jürgens einmal in einem dpa-Interview Ende 2009. Und: „Das war zu meiner Zeit nicht nur deshalb unmöglich, weil ich egoistischer war als er. Wir haben als Männer in der damaligen Gesellschaftsstruktur die Rolle spielen müssen, die wir gespielt haben.“
John Jürgens, der Bastel-, Fußball-, Tennis- oder Ballettpapa, fährt von A nach B, ist in vielen Punkten ein Gegenentwurf zu seinem Vater. „Ohne meinen Vater kritisieren zu wollen, würde ich gerade beim Thema Frauen manches anders machen. Ich will jetzt nicht so tun, als wäre ich ein Mönch. Aber ich denke,
dass man sich im Zaum halten und vernünftig sein kann. Ich habe natürlich das wahnsinnige Glück, eine tolle Frau zu haben, die alle Vorzüge vereint.“ Wahrscheinlich sei es aber auch einfacher, treu zu sein, wenn man nicht so begehrt werde. John Jürgens, der in New York Schauspielerei studierte und als einer der erfolgreichsten Event-DJs gilt, hat längst seinen Frieden gefunden. „Mein Vater hätte all das, was er geschaffen und geleistet hat, nicht 60 Jahre lang so so machen können, wenn er der Windel-Wechsel-Papa gewesen wäre. Was er gelebt hat war Rock‘n‘Roll pur – man denkt immer Schlager und so, aber
was da los war nach den Konzerten, … Ich habe deswegen irgendwann für mich beschlossen, es ruhen zu lassen und die guten Seiten zu sehen und Verständnis zu haben, für das, was mein Vater gemacht hat. Heute bin ich älter und verstehe das auch. Er war ein Kreativer und ein Nachtmensch, hat zeitversetzt gelebt. Bis morgens um fünf hat er am Klavier gesessen und Songs geschrieben.“
Beschweren will sich John Jürgens ausdrücklich nicht. „Das wäre Jammern auf hohem Niveau. Wir hatten ein Riesenglück, unser Leben war toll. Wir waren in der Natur in Kitzbühel, sind im Winter Ski gefahren, waren im Sommer nur draußen. Da hat man nicht die ganze Zeit an die Eltern gedacht.“ Warum sie damals nach Vaterstetten gezogen sind, weiß John Jürgens nicht mehr. Vermutlich, weil es in Obermenzing zu
klein wurde für ihn und seine Eltern. „Ich weiß nur, sehr genau, warum wir Ende 1968 von Vaterstetten nach Kitzbühel gezogen sind“, sagt John Jürgens. „Ich hatte Lungentuberkulose und alle haben meinen Eltern empfohlen, in die Berge zu ziehen. Mein Vater war ja ohnehin selten da und er wollte nur in der Nähe vom Riemer Flughafen bleiben.“
An die Zeit in Vaterstetten, die auch seine Schwester Jenny, die 1967 geboren wird, noch etwas über ein Jahr erlebt, kann sich John kaum noch erinnern. Ein paar Mal war er später noch eher zufällig da, bei Auswärtspielen seines Sohnes gegen den SC Baldham-Vaterstetten und vor zehn Jahren wegen eines Grundstücks, was er und seine Frau Hayah, eine Deutsch-Koreanerin aus Niederbayern, kaufen wollten.
Aber letztlich ist die Familie in Trudering geblieben und lebt dort jetzt in einem 2012 neugebauten Eigenheim ihren Traum. Auch Papa Udo war vor seinem plötzlichen Tod noch einmal in dem neuen Haus. Ansonsten habe man sich 3 bis 4 Mal im Jahr zum Abendessen gesehen und zuletzt bei seinem Konzert in München. „Bei all den Treffen ging es viel um ihn, aber auch um das Leben ganz allgemein. Weitestgehend blieben wir dabei auch ungestört. Er war gerne in Schumann‘s Tagesbar oder im
Franziskaner. Viele haben sich gefreut, dass sie ihn gesehen haben, aber höchstens mal
nach einem Autogramm gefragt. Es war nicht wie bei einer Boygroup.“
1989, nach 26 Ehejahren, ließen sich Panja und Udo scheiden. In all den Jahren hatte Udo Jürgens immer wieder andere Partnerinnen an seiner Seite. Wie sie damit klargekommen ist, wurde Jenny Jürgens einmal
gefragt. „Für meinen Bruder John und mich war die offene Ehe unserer Eltern etwas Normales. Für meine Mutter war es nicht immer leicht. Sie hat mehr Wunden davongetragen als mein Vater, weil sie sich von Herzen eine Familie wünschte, die zusammenbleibt und funktioniert. Als Frau ohne gelernten Beruf und mit Kindern war man damals viel abhängiger als heute. Meine Mutter wusste außerdem, dass sie das gesamte Familienmodell in die Krise stürzt, wenn sie Udo verlässt. Sie hat es für uns gemacht.“
Das Verhältnis von Tochter Jenny und Sohn John zu ihrer Mutter könnte besser nicht sein. „Nächstes Jahr wird meine Mutter 80 und dann fahren wir mit ihr drei Tage nach Paris“, sagt uns John, den wir als einen unglaublich bodenständigen und reflektierten Menschen kennenlernen durften.