„Das Wertvollste, was wir je getan haben“

von Markus Bistrick

Hört man frühmorgens auf Antenne Bayern die fröhliche Stimme von Indra Willer-Gerdes, kommt einem nicht zwangsläufig der Gedanke, dass gerade sehr ernste Themen auf der privaten Agenda der Moderatorin stehen. Denn während tagsüber immer neue Schreckensmeldungen vom Bombenhagel in der Ukraine über den Äther schwappen, sitzt im Haus Willer-Gerdes in Vaterstetten eine ukrainische Mutter mit ihrer 9-jährigen Tochter, für die diese Nachrichten die Welt bedeuten. Ein Gespräch, das Unfassbares in Worte zu fassen versucht.

Wann haben Sie entschieden, Flüchtlinge aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen?

Indra Willer-Gerdes: Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne Menschen um mich habe und mein Herz auf der Zunge trage. Zu unserem Freundeskreis zählt schon seit vielen Jahren auch Kyrill – ein Ukrainer aus dem Westen des Landes. Zusammen haben wir auch schon so manches schöne Weihnachtsfest gefeiert. Als sich die Lage in seiner Heimat so zugespitzt hat, entschloss sich schließlich Kyrills Schwester Vali, zu fliehen. Da Kyrill weder ein Auto noch einen Führerschein besitzt, haben wir kurzerhand beschlossen, ihn zu begleiten. Auch eine Kollegin von Antenne Bayern hat sich uns angeschlossen, damit wir mit zwei Fahrzeugen mehrere Menschen zurück nehmen können. So sind wir am 3. Tag des Krieges Richtung Warschau aufgebrochen. Alles musste wahnsinnig schnell gehen, damit Kyrills Schwester nicht lange an der Grenze warten muss. Drei Tage und 3.000 Kilometer später kamen wir, beladen mit Medikamenten, an der ukrainisch-polnischen Grenze an.

Wie war es vor Ort?

Uns war von Anfang an klar, dass wir einen Teil von Kyrills Familie bei uns aufnehmen würden. Wir dachten, wie wir uns fühlen würden, wenn uns von heute auf morgen so etwas schreckliches passieren würde. Kyrills Schwester Vali hat insgesamt drei Tage vor der Grenze im Stau gestanden, zusammen mit einer Freundin und drei kleinen Kindern. Dann hatten sie es nach vorne geschafft. Die Szenen, die sich dort abspielten, waren unglaublich und ich kann das nur schwer in Worte fassen. Da waren Männer, die ihre Frauen an die Grenze gebracht haben und dann wieder umgedreht sind, um ihr Land zu verteidigen. Kinder, die ganz alleine über die Grenze geschickt wurden, mit nichts in der Hand.

Konnten Sie letztlich mehrere Flüchtlinge mitnehmen?

Kaum war Vali durch die Grenze, wurde der Übergang auf unbestimmte Zeit geschlossen, da auf Flüchtlinge geschossen wurde. Wenn du da stehst, helfen willst und hörst plötzlich, dass auf die wartenden Menschen geschossen wird – die Bilder, die da im Kopf entstehen, kann man sich gar nicht vorstellen. Wir sind dann zum Warschauer Bahnhof gefahren, wo sehr viele Menschen mit dem Zug angekommen sind. Mit einem Pappschild, auf das wir auf Ukrainisch: „München – 4 Personen + Unterbringung“ gekritzelt hatten, stellten wir uns mittenrein. Plötzlich stand da eine junge Frau mit drei Kindern und einem einzigen Koffer. Die haben wir angesprochen und schließlich mit nach München genommen. Man kann sich kaum vorstellen, wie groß die Not für einen Menschen sein muss, wenn er sich mit drei kleinen Kindern zu Wildfremden ins Auto setzt.

Wo wohnen all diese Menschen jetzt?

Valery und ihr Sohn wohnen jetzt mit in der kleinen Wohnung von Kyrill, weil jetzt ein anderer Teil seiner Familie nachgekommen ist: Seine Cousine Inna, ihre neunjährige Tochter Dasha und ihr kleiner schwarzer Kater Black Diamond. Sie kommen aus Charkiw, einer 1,5 Millionen-Stadt im Osten – neben Kiew das Bildungszentrum der Ukraine mit 42 Universitäten. Die Familie hauste tagelang im Keller ihres Hauses und wollten sich nicht trennen, doch eines nachts, so erzählte mir Ina, wurde sie wach und alles war voller Flugzeuge und Raketen. Der Himmel hat geleuchtet wie ein komplett eskaliertes Silvester. Es gab kein Wasser mehr, keinen Strom, kein Essen. In dieser Nacht wurde das Haus und der komplette Stadtteil zerstört – dann ging es nicht mehr und Inna floh mit ihrer Tochter, ihren Eltern, aber ohne ihren Mann. Gemeinsam sind sie elf Tage vom Osten der Ukraine bis in den Westen nach Polen gefahren. Onkel und Tante wurden in einer Wohnung untergebracht. Inna, Dasha und Black Diamond wohnen jetzt bei uns.

Was mussten Sie alles organisieren?

Wir haben die Gemeinde angerufen, um Ina und Dasha anzumelden. Dann bekommen die beiden eine Sozialversicherungsnummer und Inna hoffentlich auch eine Arbeitserlaubnis. Sie ist Designerin, ihr Mann, der in der Ukraine geblieben ist, Ingenieur in der Automobilbranche. Dasha soll möglichst bald in die Schule gehen, um etwas Normalität zu finden. Wir unterhalten uns irgendwie mit Händen und Füßen, auf Deutsch, Russisch, Ukrainisch – gottseidank gibt es den Google Translator.

Wie geht es Inna und Dasha?

Sie sind natürlich wahnsinnig traurig, dass ihr Haus zerstört ist und ihre Zukunft. Die ganze Stadt liegt in Trümmern. Das Allerschlimmste ist, dass sie nicht wissen, wann bzw. ob sie ihren Mann bzw. Papa wieder sehen. Das will man sich gar nicht vor Augen führen. Wenn Ina ihren Mann mal telefonisch nicht erreicht, ist das immer eine Katastrophe. Und wenn Inna von der Nacht der Tausend Bomben erzählt, von der Angst, ihr Leben zu verlieren und der Ohnmacht auf der Flucht, dann zittert sie am ganzen Körper. Sie kann nicht begreifen, dass sie plötzlich ein Flüchtling ist. Dann nehme ich sie in den Arm.

Was macht Sie besonders fassungslos?

Die russische Propaganda. Viele Ukrainer haben Angehörige in Russland und sprechen russisch. Wenn sie mit denen telefonieren, glauben die nicht, dass Krieg ist. Sie glauben der russisschen Propaganda und Putin mehr als ihren eigenen Familienangehörigen. Sowohl Inna als auch Vali haben erzählt, dass sie beschossen werden und fliehen müssen, aber ihnen wird nicht geglaubt.

Wie sieht aktuell Ihr Alltag aus? Ziemlich chaotisch, alles durcheinander aber irgendwie auch schön. Ich glaube, das hier ist das Wertvollste, was wir jemals gemacht haben. Man wünscht sich, wenn man selbst in so eine Situation käme, dass uns auch jemand aufnehmen würde. Ansonsten stehe ich jeden Tag um 3.30 Uhr auf und fahre zu Antenne Bayern, danach komme ich Heim zu meiner quasi über Nacht vergrößerten Familie. Neulich haben wir ein großes Essen gemacht, ukrainische Musik gehört und uns alle umarmt. Ich habe noch nie mit fremden Menschen so viel geweint und gelacht. Und dabei Wodka getrunken. Dieser Zusammenhalt ist unbezahlbar.

Wie gehen Ihre beiden Kinder mit der Situation um?

Denen muss ich ein ganz großes Kompliment machen, sie helfen, wo sie nur können. Constantin hat zu uns gesagt, als wir in die Ukraine aufgebrochen sind: „Ich muss euch echt mal was sagen, ich habe richtig nette Eltern.“ Wir helfen alle zusammen. Das hat eine ganz neue Qualität bekommen.

Vielen Dank für das Gespräch und großen Respekt vor Ihrem Engagement.