Von Schirm- und anderen Pilzen

von Wolfram Franke

Meine erste Erfahrung mit Pilzen machte ich als Vierjähriger im Jahr 1953. An einem Tag Anfang Oktober schob meine Oma den Kinderwagen, in dem mein kleiner Bruder lag, durch das brandenburgische Dorf, in dem wir wohnten. Ich ging an ihrer Hand neben ihr. Da leuchteten ein paar helle Punkte im Gras am Wegrand. „Schirmpilze!“, rief meine Oma begeistert aus, bückte sich und drehte drei Pilze vorsichtig mit den Stielen heraus. Da sie keinen Korb bei sich hatte, legte sie die Pilze mit den Stielen nach oben auf die Decke des Kinderwagens und balancierte sie, den Wagen vorsichtig schiebend, nach Hause. Dort angekommen begann sie sofort mit der Zubereitung der Pilze. Sie panierte die Schirme und briet sie wie Koteletts in der Pfanne. Ich schaute ihr zu und durfte schließlich alle drei Schirmpilze essen. Sie schmeckten mir so vorzüglich, dass Schirmpilze seit meiner Kindheit meine Lieblingspilze sind. Ihr nussartiger Geschmack ist mit keinem anderen Pilz zu vergleichen.

Pilzreiche Wälder
Korrekt heißt dieser Pilz Riesenschirmling oder Parasolpilz (Macrolepiota procera). Aber wir haben ihn immer nur Schirmpilz genannt. Bald darauf ging ich auch mit meinem Vater regelmäßig in die Pilze. Das kleine Dorf liegt an der Dahme, einem Nebenfluss der Spree, südöstlich von Berlin. Außer dem Fluss grenzen von zwei Seiten große Seen an das Dorf und es ist von Kiefern- aber auch Laubwäldern umgeben. Deren Boden weist eine für Pilze gleichbleibend günstige Bodenfeuchtigkeit auf. Der Pilzreichtum ist immens. Innerhalb einer Stunde hatten wir einen Korb mit Steinpilzen, Pfifferlingen, Maronenröhrlingen, Birkenpilzen und natürlich Schirmpilzen gefüllt. Eine reichliche Mahlzeit für eine fünfköpfige Familie.

„Pilzjagd“ im Siegerland
Auch Jahre später, im südwestfälischen Siegerland, wohin es uns nach unserer Flucht aus der DDR verschlagen hatte, ging ich mit meinem Vater in den Wäldern „auf Pilzjagd“, wie wir es nannten. Und als ich selber Vater wurde, setzte ich diese Leidenschaft mit meiner Familie fort. Eines Abends, es war der 1. November 1975, wollte meine Frau noch einmal frische Luft schnappen. Sie war hochschwanger! Da es leicht regnete, spannten wir einen Regenschirm auf. Doch wir waren kaum ein paar Schritte in den Wald hinein gegangen, da breitete sich vor uns ein wahrer Pilzteppich aus: Maronenröhrlinge und noch viel mehr. Wir vergaßen den Regen, drehten den Schirm um und legten dort unsere gesammelten Pilze hinein. Am nächsten Tag wollten wir sie zubereiten. Doch am nächsten Morgen, dem 2. November musste ich meine Frau ins Krankenhaus fahren. Unser erster Sohn wurde geboren. Ich kehrte erst am Nachmittag wieder in unsere Wohnung zurück. Die Pilze musste, nein durfte ich mir am Abend allein zubereiten und essen.

Pilze im eigenen Garten
Auch später, inzwischen wohnten wir in Offenburg, gingen wir mit unserem noch kleinen Sohn im Schwarzwald Pilze suchen. Leider mussten wir unsere Leidenschaft nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl unterbrechen. Während dieser Zeit begann ich mich für die Pilzzucht im Garten zu interessieren. Dies ist auf Holz oder Stroh oder speziellen Substraten möglich. Mich wunderte zunächst, warum diese Pilze im Gegensatz zu den Waldpilzen nicht radioaktiv verstrahlt sein sollten. Doch die Erklärung von Pilzexperten leuchtete ein: Die Zuchtpilze nehmen ihre Nahrung nicht direkt aus dem Boden auf, sondern aus Holz oder Stroh. Die Bäume haben ihr Holz aber bereits vor Tschernobyl gebildet und sie nehmen ebenso wie Stroh die Strahlung aufgrund ihrer festen Struktur nur vermindert aus dem Boden auf, sodass die darauf kultivierten Pilze nicht mehr mit Strahlen belastet sind.

Von Austernseitling bis Shii-Take
Als Pilzhölzer kommen Laubholzarten wie Eiche, Buche, Ahorn, Birke, Weide und Obstbäume in Frage. Nadelhölzer sind ungeeignet. Die kultivierbaren Pilzarten sind Austernseitling, Stockschwämmchen, Samtfußrübling und der würzige Shii-Take. Auf Stroh lässt sich der Kulturträuschling, landläufig auch „Braunkappe“ genannt, kultivieren. Pilzbrut erhält man von Pilzzuchtanstalten. Sie besteht aus Getreidekörnern oder Holzstiften, die mit dem Pilzmycel durchwachsen sind.
Zum Impfen von Stroh benötigt man fest gepresste, feuchte Strohballen, in die mit einem Pflanzholz Löcher gestanzt werden. Dort hinein steckt man kleine Brocken von Pilzbrut. Alternativ können Plastiksäcke fest mit feuchtem Stroh gefüllt werden. Die Pilzbrut streut man dann lagenweise ein. Die Säcke werden anschließend rundherum mit Löchern versehen. Zum Impfen von Holz mit Pilzbrut werden etwa 80 bis 100 Zentimeter lange Stammstücke mit Bohrlöchern oder keilförmigen Einschnitten versehen, in die man die mit Pilzbrut durchwachsenen Holzstifte hineindrückt. Oder man breitet die Pilzbrut auf der Stirnseite eines 20-30 Zentimeter langen Stammstücks aus und setzt ein weiteres darauf (Sandwich-Methode). Eine dritte Methode: Der Stamm wird mit keilförmigen Einschnitten versehen und dort hinein die Pilzbrut gedrückt. Das Ganze umwickelt man anschließend mit einem Klebeband. Wichtig ist bei Stroh, ebenso wie bei Holz, eine gleichbleibende Feuchtigkeit.

Fertig-Pilzkulturen
Natürlich kann man sich von Pilzfirmen auch Fertigsets schicken lassen. Die braucht man nur mit genügend Feuchtigkeit zu versorgen und schon treiben sie in mehreren Schüben delikate Speisepilze. Danach ist das Pilzsubstrat aufgebraucht. Man kann es auf den Kompost entsorgen.

Meine Erfahrung
Bei der Kultur auf Stroh kann man sich innerhalb von zwei bis drei Wochen auf eine reiche Ernte freuen. Später lässt der Nachwuchs allmählich nach, das Stroh ist bald aufgebraucht und sackt in sich zusammen. Die geimpften Holzstücke lassen mitunter ein ganzes Jahr oder noch länger auf Fruchtkörper warten. Anschließend kann man sich aber auch ein paar Jahre lang über Pilzernten freuen.

Schirmpilze am Flussufer
Viele Jahre später machten meine Frau und ich Urlaub in meiner alten Heimat, wo wir mit unserem Faltboot auf der Dahme entlang paddelten. Da sahen wir am Ufer wieder diese weißlich hellbraunen Schirme aufleuchten: Schirmpilze. Ich legte mit dem Boot am Ufer an, stieg aus und erntete vier Schirmpilze. Ich reichte sie meiner Frau ins Boot, die sie vorsichtig verstaute. Dann paddelten wir zurück zum Anlegesteg. Dort befanden sich noch andere Bootsfahrer. Und die staunten nicht schlecht, als wir vor dem Aussteigen erst einmal vier prächtige Schirmpilze aus dem Boot holten und auf den Steg legten. Wer geht sonst schon mit einem Boot Pilze sammeln? Wir haben in diesem Urlaub noch öfter viele Schirm- und andere Pilze gefunden, die meine Frau in der Küche unserer Ferienwohnung zubereitete. Vor ein paar Jahren habe ich erfahren, dass man auch Schirmpilze kultivieren kann. Das wollte ich auch schon immer mal machen – vielleicht im nächsten Jahr …

Mehr über Waldpilze hier: www.isarschwammerl.de

Der Vaterstettener Wolfram Franke ist gelernter Gärtner und Gartenbautechniker und begann seine journalistische Laufbahn 1980 bei „mein schöner Garten“, zunächst als Redaktionsassistent und nach einem Jahr als Redakteur. Zwanzig Jahre lang war Wolfram Franke Chefredakteur von „kraut&,rüben“, Magazin für biologisches Gärtnern und naturgemäßes Leben. Das biologische Gärtnern sowie Garten- und Schwimmteiche machte er bereits zu Beginn seiner journalistischen Laufbahn zu seinen Spezialgebieten. Wolfram Franke ist seit 1985 Autor im BLV Buchverlag. Privat bewirtschaftet er neben seinem kleinen Reihenhausgarten seit mehr als 25 Jahren auch einen 800 Quadratmeter großen Kreativgarten nach ökologischen Regeln beim Reitsberger Hof.