10. Oktober 2024, 8 Uhr morgens. Hurricane Milton beendet sein zerstörerisches Gastspiel an der Küste Floridas, für unzählige Schüler beginnt der Unterricht – und ich stehe vor dem Vaterstettener Feuerwehrhaus in der Möschenfelder Straße, wo gleich, wie jeden Donnerstag, die Essensausgabe der Tafel Vaterstetten-Grasbrunn beginnt. Den ersten Anfängerfehler habe ich schon gemacht, und mir für die kommenden Stunden, in denen ich hier versuchsweise mithelfe, nicht einmal eine Wasserflasche eingepackt. Ich kann ja schlecht von den Tafel-Vorräten etwas für mich beanspruchen, denke ich mir und fühle mich wie der sprichwörtliche erste Mensch.
Die Tafeln sind dafür da, um einerseits Menschen in Not mit grundlegenden Hilfsmitteln zu unterstützen und gleichzeitig Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden, sinnvoll zu verwerten. Quasi eine „Win-Win-Situation“. Wie ich erfahre, gibt es in Vaterstetten und Grasbrunn insgesamt 130 Haushalte, die einen Tafelausweis haben. Das sind knapp 300 Menschen, darunter auch Rentner und Alleinerziehende, die mehr oder weniger regelmäßig auf externe Hilfe angewiesen sind. Tendenz: stark steigend. Und die Dunkelziffer derjenigen, die berechtigt sind, aber aus Scham nicht kommen, kennt niemand.
Nur durch die Unterstützung der örtlichen Lebensmitteleinzelhändler, Supermärkte und Einzelunternehmen und vor allem vieler ehrenamtlicher Helfer kann die Nachbarschaftshilfe, über die die Tafel organisiert wird, überhaupt so arbeiten, wie sie es tut. „Wir sind nur eine Unterstützung, insbesondere für größere Familien“, weiß Ressortleiterin Maya Riffeser. „Eine umfängliche Versorgung können wir nicht annähernd ermöglichen.“
Zurück ins Geschehen. Noch zwei Stunden ist Zeit, um die Lebensmittel, die nicht bereits am Vortag von den Helferteams eingeräumt wurden, einzusortieren. Große Gebinde werden fein säuberlich auf kleinere Portionsbecher aufgeteilt, damit möglichst viele Menschen etwas davon abbekommen. Was noch gut ist, wird nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum einsortiert. First in, first out, Verderbliches sofort in die Kühlung. Die Helfer funktionieren wie ein Uhrwerk. Manchmal kommen auch neue Hilfswillige dazu, um mit anzupacken, so wie ich heute. Dann wird geduldig erklärt, was zu tun ist. Jede helfende Hand wird gebraucht. Gerade heute befinden sich leider besonders viele bereits verdorbene Waren unter den angelieferten Spenden, die dann einzeln vom Tafelteam geprüft und entsorgt werden müssen. „Keiner hier wirft gerne etwas weg, es tut in der Seele weh“, so die einhellige Meinung. Aber Supermärkte haben kaum mehr genug Personal, um die Waren auszusortieren – der allgegenwärtige Fachkräftemangel lässt grüßen.
Ich staune, wie viel frisches Obst und Gemüse geliefert wurde. „Das ist sonst nicht so viel“, erklärt mir eine der ehrenamtlichen Helferinnen (meist sind es Frauen). „Vor allem rund um Erntedank haben wir sehr viel regionale Obst- und Gemüsespenden.“ Doch auch Exotisches wie Physalis, Ananas, Limetten oder Maracuja findet sich. Es gibt auch Mini-Kiwi, so klein wie Haselnüsse, und lilafarbenen Blumenkohl – beides auch für mich ein Novum. Dafür sind heute keine Eier dabei, und die werden eigentlich immer gebraucht.
Jeder ehrenamtliche Helfer der Tafel bekommt eine umfassende Schulung über die Regeln von Mindesthaltbarkeitsdaten oder Verbrauchsdaten. Alkoholisches z. B. Pralinen oder selbst hergestellte Lebensmittel müssen strikt aussortiert werden. Ich beäuge irritiert eine einzelne Dose Foie gras canard, also Entenstopfleber, die in einem der Regale steht.
Eine Bürgerin rührt mich fast zu Tränen, als sie, komplett durchnässt vom Regen, um kurz vor 10 Uhr noch mehrere Kartonagen mit Eiern ins Feuerwehrhaus trägt. Es gibt sie, diese guten Seelen. „Das macht sie jeden Donnerstag, und fragt uns zuvor, was noch fehlt“, wird mir erklärt. Es herrscht ein betriebsames Kommen und Gehen, man kennt sich, plaudert kurz, nickt sich zu. Ein Mann bringt eine große Trage Weintrauben. „Aus meinem eigenen Garten!“ Ich bedanke mich und sortiere sie extra weit vorne ein. Um mich herum sieht es aus wie an einem Hotelbuffet, vielleicht habe ich es zu gut gemeint? Doch später, bei der Ausgabe, muss es schnell gehen und alles in Sicht- und Greifweite sein – da ist keine Zeit mehr für Sortierarbeiten.
Die Lebensmittelausgabe dauert, solange Menschen anstehen – oder bis die Vorräte aufgebraucht sind. Um sicherzustellen, dass alle Besucher fair versorgt werden, werden sie in Gruppen eingeteilt, die in der Reihenfolge ihres Erscheinens wechseln. So hat jeder mindestens einmal im Monat die Möglichkeit, in der ersten Schicht dabei zu sein – denn in der letzten Schicht bleibt oft nur noch wenig übrig. Gerade in den kalten Monaten leeren sich die Lager zunehmend. Deshalb ist die Nachbarschaftshilfe (NBH) immer wieder auf Spenden angewiesen, um den Bedarf der Tafel zu decken und startet regelmäßige Aufrufe. Denn was nicht täglich sichtbar ist, gerät leicht in Vergessenheit. Oder übersetzt: Wem es gut geht, der übersieht manchmal die Dunkelheit.
Nach ein paar Stunden begleite ich J. bei ihrer Liefertour. Sie ist Flugbegleiterin und hilft seit Corona bei der Tafel mit, anfänglich noch in München, wo die Logistik natürlich eine ganz andere Hausnummer ist. „In der Corona-Zeit ist mir die Decke auf den Kopf gefallen und ehrlich gesagt habe ich auch ein bisschen die Sinnhaftigkeit meines Berufs hinterfragt. Dann habe ich mich bei der Tafel gemeldet, wie viele meiner Kollegen“, erzählt sie, während sie mit mir Kisten in einen Vaterstettener Hauseingang trägt. Überhaupt sucht die Tafel Vaterstetten-Grasbrunn regelmäßig Fahrer, auch als Springer. Und natürlich immer: ehrenamtliche Helfer.
Alles, was donnerstags tatsächlich keinen Abnehmer findet, geht an andere Tafeln im Netzwerk oder so genannte Food Sharing Gruppen, die sich in Eigenregie organisieren und die Lebensmittel unter sich aufteilen. Allerdings auch eine Spenden-Konkurrenz für die Tafel, da in Vaterstetten nur einmal wöchentlich Ausgabe ist und die Lager- und Kühlkapazitäten im Feuerwehrhaus begrenzt. Und mit der verbesserten Planbarkeit durch die zunehmende Digitalisierung bleibt in den Supermärkten mittlerweile nicht mehr so viel über – gut für die Ressourcenplanung, aber eine Herausforderung für die Tafeln. „Wir freuen uns über Lebensmittel genauso wie über Geldspenden“, erklärt Maya Riffeser. „Jede Spende mit dem Hinweis „Tafel” kommt auch zu 100 Prozent der Tafel zu Gute. Davon kaufen wir, wenn es notwendig ist, Lebensmittel für unsere Tafelkunden.” Derzeit helfen 25 Frauen und Männer ehrenamtlich beim Einräumen und Ausgeben im Laden, sowie 26 Fahrer, die regelmäßig oder als Springer Ware bei Lebensmittelhändlern abholen und zum Tafelladen transportieren. Dazu kommen aktuell drei Teilzeitkräfte, die in der Verwaltung der NBH ausschließlich für das Tafelgeschäft eingesetzt sind.
„Vor allem haltbare Produkte wie Kaffee, Öl und Nudeln, aber auch Shampoo und Duschgel werden immer gebraucht,“ sagt Maya. Wer spenden möchte, kann die Waren direkt in der Zentrale der Nachbarschaftshilfe in der Brunnenstraße abstellen oder in den Rathäusern abgeben, bzw. in der Gemeindebücherei Grasbrunn. Eine immer aktuelle Bedarfsliste findet sich auf der NBH-Website. Entenstopfleber steht übrigens nicht darauf.
Noch bevor die Tafel offiziell öffnet, hat sich bereits eine lange Warteschlange gebildet. „Lass uns die Türen öffnen, es regnet“, höre ich jemanden vorschlagen. „Jeweils 5 Produkte dürfen sich die Menschen aus den haltbaren Waren aussuchen“, erklärt mir ein Helfer, der mit seiner Frau bereits seit 15 Jahren bei der Tafel hilft. Er navigiert jeden einzelnen Besucher persönlich durch die Regalreihen. Bei den frischen Waren, wo ich eingeteilt bin, hängt die Ausgabemenge davon ab, wie viele Personen im Haushalt leben. Schließlich soll auch noch für den nachfolgenden Besucher etwas übrig sein. Die meisten, die hier vorstehen, kennen das System, viele halten meist schon die Anzahl der Finger hoch, gesprochen wird wenig.
Ich stehe direkt an der Brotausgabe und lege heimlich immer noch zwei Semmeln zusätzlich in die Tragetaschen, die mir entgegengehalten werden. Ich gebe einer Frau, die Kartoffeln und Knoblauch braucht, zusätzlich Rosmarin. Sie versteht sofort, strahlt mich an und verstaut alles in ihrem Trolley. Wer auf die roten Paprika zeigt, bekommt von mir – mein inneres Auge assoziiert Ratatouille – noch eine Aubergine dazugepackt, von denen es heute besonders viele gibt, und die ihrer Optik nach nicht bis zur nächsten Woche warten können. Dass ich in Rezepten denke, irritiert den Kollegen neben mir zunächst, aber irgendwann amüsiert es ihn. Nur weil es den Leuten schlecht geht, müssen wir Helfer ja nicht auch noch rumstehen wie die Sauertöpfe, finde ich. Immerhin ist die Tafel auch ein bisschen für das soziale Miteinander da, für Integration, für Ablenkung.
Das Miteinander bei der Tafel gibt den Menschen ein Gefühl von Normalität. Genauso aber auch für diejenigen, die sich hier – teilweise schon seit vielen Jahren – engagieren. Sie erleben eine erfüllende Aufgabe, die wirklich sinnvoll ist. Und am Ende des Tages spüren sie in ihren Knochen, was sie eingeräumt, verteilt und wen sie getröstet haben. Und vor allem spüren sie es in ihrem Herzen.
Hier gehts zur aktuellen “Wunschliste”:
Microsoft Word – NBH_Tafel_Wunschliste_062024
Weitere Informationen:
Was heißt eigentlich „bedürftig“?
Einen Tafelausweis können Bezieher von Bürgergeld, Grundsicherung oder Menschen mit geringem Einkommen erhalten. Die Beantragung erfolgt über die Nachbarschaftshilfe, unterstützt vom Sozialwesen im Rathaus, das die Bedürftigkeit prüft und Einkommensnachweise weiterleitet. Die Zahl der Tafelausweise stieg durch die Flüchtlingswellen 2015 und 2022; dabei sind nur Personen mit abgeschlossenem Asylverfahren und Aufenthaltstitel berechtigt. Ukrainische Flüchtlinge erhielten durch eine bayerische Regelung direkten Zugang zur Tafel.