Glasfaserausbau: ein Trauerspiel

von Markus Bistrick

Am Lerchenweg 12, mitten in Vaterstetten, entsteht derzeit dringend benötigter Wohnraum. Konkret: ein modernes Mehrfamilienhaus mit 5 Wohnungen und Tiefgarage. Die Bauarbeiten stehen kurz vor dem Abschluss, im August soll mit der Vermietung begonnen werden. Alles vom Feinsten und auf dem neuesten Stand der Technik, das war dem Bauherrn wichtig. Es gibt nur ein Problem und das ist die Verbindung zur Außenwelt. Denn Kupferkabel verlegt die Telekom nicht mehr – aber Glasfaser derzeit leider auch nicht. Der Glasfaser-Ausbau wurde Mitte April gestoppt. Heißt für den Lerchenweg 12: bis auf Weiteres kein Telefon, kein Internet, kein TV Streaming. Jedenfalls nicht per Leitung. Für Baldham/Vaterstetten bedeutet das: Aktuell geht’s beim Glasfaser-Ausbau nicht weiter. In der Gemeinde Grasbrunn hat die Telekom gar nicht erst begonnen, daher schaut man sich dort seit Mitte Juni aktiv nach Alternativen um. Und in Vaterstetten gibt es angeblich Verhandlungen zwischen der Telekom und Avacomm über eine mögliche Kooperation.

Lerchenweg 12 in Vaterstetten: Hier heißt es bis auf weiteres: “Kein Anschluss unter dieser (Haus)Nummer.” (Foto: B304.de/Markus Bistrick)

„Aktuell hat die Deutsche Telekom AG den Ausbau seit April gestoppt. Ich gehe davon aus, dass dieses Jahr nicht mehr gebaut wird“, heißt es am 10. Juni in einer E-Mail an einen Telekom-Kunden aus Vaterstetten, die B304.de vorliegt. Verfasst von einem Mitarbeiter der Geodata GmbH, also von dem Unternehmen, das den Glasfaser-Ausbau in der Gemeinde Vaterstetten im Auftrag der Telekom durchführt. Damit bestätigt sich, was uns mehrere Branchenkenner bereits zuvor mitgeteilt hatten: Die Telekom macht eine Ausbau-Pause. Nicht nur in der Gemeinde Vaterstetten, angeblich deutschlandweit. Auf unsere Nachfrage hin teilt uns Telekom-Sprecher Markus Jodl lediglich mit: „Vaterstetten bleibt Teil unserer Ausbaustrategie.“ Konkret wird er nicht.

Bereits im März hatte Avacomm-Chef Helmut Gallitscher in B304.de angekündigt, „erstmal nur noch Gebiete auszubauen, in denen es genügend Nachfrage nach unseren Anschlüssen gibt“. Dies sei etwa in Baldham rund um den Eichhörnchenweg der Fall. Grund sei der ruinöse Wettbewerb mit der Telekom. Denn: Für zwei Glasfaser-Anbieter ist die Großgemeinde nicht groß genug, bzw. das Interesse der Bürger an der Zukunftstechnologie zu gering. Mit nur rund 30 Prozent der Haushalte, die einen entsprechenden Vorvertrag geschlossen haben – aufgeteilt auf Avacomm und Telekom – ist der Ausbau für keines der beiden Unternehmen rentabel. Noch drastischer das Ergebnis einer Umfrage in der Gemeinde Grasbrunn: Hier haben gerade einmal 5 Prozent der Haushalte Interesse an einem Glasfaser-Anschluss bekundet. Nachvollziehbar, dass die Telekom dort noch keinen Spaten in die Hand genommen hat, auch wenn Sprecher Markus Jodl die „Verzögerung“ damit begründet, dass man derzeit keine Tiefbaufirma habe, mit der man das Projekt umsetzen könne. Aber: „Grasbrunn bleibt auf der Agenda.“ Schon klar.

Es gibt in Deutschland keinen Anschlusszwang. Jeder Bürger muss sich bewusst für Glasfaser entscheiden. Doch viele Menschen halten ihren derzeitigen Anschluss für ausreichend und verstehen den Sinn und Nutzen eines Glasfaserkabels nicht oder befürchten, dass es größere Eingriffe auf ihrem Grundstück geben wird oder am Haus. Hier wäre dringend Aufklärungsarbeit geboten – seitens der Glasfaser-Anbieter, aber auch von der Politik (vor Ort).

„Wir informieren immer wieder über das Thema auf sämtlichen Kanälen“, sagt Vaterstettens Bürgermeister Leonhard Spitzauer (CSU). Die B304.de-Redaktion macht sich auf die Suche und findet wenig. Auf der Website der Gemeinde gibt es zwar einen Menüpunkt „Breitbandausbau“. Hinterlegt ist aber lediglich eine Dokumentation der Glasfaser-Historie seit 2016. Letzte Aktualisierung Anfang Mai 2023, also vor mehr als einem Jahr. Und im Gemeindeblatt hieß es zuletzt vor zwei Monaten: „Vaterstetten (…) hat nun signifikante Entwicklungen zu verzeichnen.“ Dieser vielversprechenden Einleitung folgte eine Entschuldigung für Verkehrseinschränkungen und Baustellenaktivitäten. Fakt ist: Der Glasfaser-Ausbau in Vaterstetten und Baldham macht gerade auf ungewisse Zeit Pause. Immerhin: Auf B304.de-Nachfrage hin, habe er „bei der Telekom um ein Statement gebeten“, so Spitzauer. Das liegt zwischenzeitlich vor. Darin heißt es wörtlich: „Wie ich (…) Ihnen mitgeteilt habe, stehen meine Kollegen aus dem Vertrieb Kooperationen mit der Avacomm und deren Finanzinvestor zwecks einer möglichen Kooperation in Vaterstetten im engen Austausch. Beide Seiten befinden sich im guten Austausch und Dialog. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob in Vaterstetten nur ein Glasfasernetz von Avacomm oder Telekom gebaut wird und eine Nutzung für beide Seiten möglich ist.“

„Ich sehe hier keinen Anlass auf ‘Alarmismus’ zu machen“, erklärt David Göhler, Grünen-Gemeinderat und ehrenamtlicher Digitalisierungsreferent. Der Ausbau habe auf breiter Front begonnen, die Telekom sei im kommunizierten Zeitplan. Dass es ‘Baupausen’ gebe, kenne wohl jeder, der schon in große Projekte involviert war. Ferner weißt der 59-jährige Vaterstettener darauf hin, dass er als Referent kein Controller sei und insofern nicht eigenmächtig handeln könne, aber „piksen“, falls das Rathaus nicht aktiv werde. Beim Thema Glasfaser sieht er keinen Handlungsbedarf.

Wie im Rathaus Vaterstetten liegt auch in Grasbrunn lediglich eine Absichtserklärung der Telekom zum Glasfaser-Ausbau vor. „Zu einem Vertrag mit festen Terminen war sie nicht bereit – was verständlich ist, wer lässt sich schon gerne auf Verpflichtungen ein, die Strafzahlungen vorsehen“, schreibt uns Göhler.

In Grasbrunn möchte man bei diesem zentralen Thema keine Zeit mehr verlieren. Dort nimmt man das Zepter wieder selbst in die Hand und prüft derzeit mittels eines „Branchendialogs“ alle Möglichkeiten und Fördermodelle. „Wir wissen, dass die Glasfaser ein wichtiger Bereich der Daseinsvorsorge ist“, so der stellvertretende Leiter der Grasbrunner Finanzverwaltung, Christian Wenzl.

Im Klartext: Die digitale Infrastruktur gewinnt als Standortfaktor immer mehr an Bedeutung. Kommunen sollten deshalb auf der digitalen „Autobahn“ Vorreiter sein; zum einen, um für Betriebe attraktiv zu bleiben, bzw. zu werden. Zum anderen werden leistungsfähige Netze immer wichtiger, auch um Familie und Beruf vereinbar gestalten zu können. Und, auch das gehört zur Wahrheit dazu: Je mehr Bürger sich für einen Glasfaser-Anschluss entscheiden, um so schneller erfolgt der Ausbau, weil es sich dann für die Betreiber lohnt. Übrigens: Aktuell bieten sowohl die Telekom wie Avacomm den Hausanschluss noch kostenlos an. Später könnte es teuer werden. 

Lange Leitung – ein Rückblick

Ab 2013: Avacomm beginnt in Teilen mit dem Glasfaserausbau der nördlichen Dörfer (Neufarn, Parsdorf etc.). Auf Wunsch der Gemeinde Vaterstetten wird im Herbst 2015 auch das neue Gewerbegebiet Parsdorf kurzfristig mit Glasfaser erschlossen.

16. Mai 2018: Die Gemeinde Vaterstetten kündigt den flächendeckenden Ausbau mit Glasfaser durch echtschnell an. Allerdings: Mindestens 40 Prozent der Haushalte müssen dafür bis zum Stichtag am 31. August 2019 einen Vorvertrag abschließen, sonst ist das Vorhaben für das Glasfaser-Unternehmen unrentabel – am Ende sind es gerade einmal 4 Prozent. Ein Glasfaser-Ausbau rückt in weite Ferne.

Kurzzeitig ein Ladenlokal von echtschnell in der Wendelstraße 10, heute gibt es dort Sushi vom Wolfsbarsch. (Foto: Ilona Stelzl / B304.de)

2019: Avacomm beginnt mit dem flächendeckenden Glasfaserausbau in Neufarn, Parsdorf und Purfing.

29. März 2020: In der Stichwahl um das Amt des Bürgermeisters setzt sich Leonhard Spitzauer (CSU) mit einem Stimmenunterschied von 186 denkbar knapp gegen seine Konkurrentin Maria Wirnitzer (SPD) durch.

23. Juli 2020: Die Gemeinde Vaterstetten lädt mit echtschnell und Avacomm zwei Netzbetreiber in den nicht-öffentlichen Teil der Gemeinderats-Sitzung ein, die dem Gremium ihre eigenwirtschaftlichen Ausbaupläne für Vaterstetten und Baldham vorstellen. Wie verschiedene Teilnehmer – u.a. die SPD-Fraktion – erklären, habe die Firma Avacomm in dieser Sitzung „konkrete Ausbauplanungen für das gesamte Gemeindegebiet“ präsentiert. Spitzauer bestreitet das.

Oktober 2020: Der Glasfaser-Ausbau wird zur Chefsache. Der frisch gewählte Bürgermeister will schnell punkten und bringt die Idee eines gemeindlichen Glasfasernetzes (Betreibermodell) ins Spiel. Heißt: Vaterstetten soll das Datennetz mit Fördermitteln und Steuergeld selbst bauen und später dann an ein Telekommunikationsunternehmen verpachten. „Wenn wir nichts tun, passiert nichts“, so Spitzauer im November 2020 wörtlich. Und das, obwohl die Firma Avacomm zwischenzeitlich bereits eine adressgenaue Planung für den Ausbau nachgereicht hatte.

Januar 2021: Gegen die Stimmen der SPD-Fraktion beschließt der Vaterstettener Gemeinderat, Förderanträge für den eigenen Bau eines Glasfasernetzes zu stellen und kündigt einen eigenen gemeindlichen Ausbau an. Da mit echtschnell und Avacomm bereits zwei Glasfaser-Anbieter der Gemeinde vorab ihre Planungen für den Ausbau auf eigene Kosten vorgestellt haben, ist der Beschluss förderrechtlich zumindest diskussionswürdig. Die Firma Avacomm wird aufgefordert, einen Finanzierungsnachweis für den Ausbau vorzulegen. echtschnell nicht, da das Unternehmen laut Spitzauer keinen Ausbau mehr vornehmen wollte, seitdem die Gemeinde eine Förderung beantragt hatte.

August 2021: Avacomm legt einen Finanzierungsnachweis für den Glasfaserausbau in Höhe von 20 Millionen Euro vor. Doch im Rathaus zweifelt man die Bonität an.

Ziehen nicht alle an einem Strang v.l.: David Göhler (Digitalreferent Gde. Vaterstetten), Josef Ledermann (Ingenieurbüro), Steffen Reeser (Palladio), Helmut Gallitscher (Geschäftsführer AVACOMM), Jens Neitzel (CMS), Christian Gallitscher (AVACOMM), Leonhard Spitzauer (Erster Bügermeister Gde. Vaterstetten), Johannes Gallitscher (AVACOMM), Alexander Ruhrmann (RA Ruhrmann), Timo Poppe (Palladio), Markus Porombka (Kämmerer Gde. Vaterstetten). Foto: Gemeinde Vaterstetten

September 2021: Die Gemeinde erhält Förderbescheide. Bürgermeister Leonhard Spitzauer kündigt erneut einen eigenen, geförderten Ausbau an. Man ging damals von Kosten in Höhe von rund 25 Millionen Euro aus. „Nur“ 5 Millionen Euro sollten aus der Gemeindekasse kommen, der Rest würde von Bund und Land finanziert. Das Gemeindenetz wollte man dann an einen Glasfaser-Anbieter verpachten. Aber: Auch bei diesem sogenannten „Betreibermodell“ hätten sich ausreichend Bürger für Glasfaser-Anschlüsse interessieren müssen, um das investierte Steuergeld wieder einzuspielen.

Juni 2022: Kehrtwende beim Glasfaserausbau: Auf Vorschlag der Verwaltung beschließt der Gemeinderat einstimmig die Pläne eines gemeindeeigenen Glasfasernetzes aufzugeben. Offiziell sorgt man sich im Rathaus plötzlich um Steuergelder. Inoffiziell wohl eher davor, dass nach Avacomm jetzt auch die Telekom den eigenwirtschaftlichen Ausbau angekündigt hat und damit endgültig jegliche Grundlage für eine Förderung weggefallen ist. Alles andere wäre spätestens jetzt ein Verstoß gegen Förderbestimmungen gewesen.

Juli 2023: Avacomm beginnt mit dem Glasfaser-Ausbau in Vaterstetten und Baldham. Mehrere hundert Anschlüsse werden Anfang 2024 bereits geschaltet.

Spatenstich für den Telekom Glasfaser-Ausbau in Baldham am 27. September 2023. V.l.: Ronald Kieser von der ausführenden Firma (Geo Data), Vaterstettens Bürgermeister Leonhard Spitzauer (CSU) und Monika Adelsberger von der Telekom. (Foto: Markus Bistrick / B304.de)

September 2023: Nun beginnt auch die Telekom mit dem Glasfaser-Ausbau in Vaterstetten und Baldham – der Startschuss fällt, wie es der Zufall so will – ausgerechnet im Ausbaugebiet der Avacomm.

Ende Februar 2024: Avacomm lässt den Glasfaser-Ausbau in der Gemeinde erst einmal ruhen, weil der ruinöse Wettbewerb mit der Telekom für das Familienunternehmen keinen Sinn macht.  Avacomm konzentriert sich bis auf Weiteres auf seine anderen Ausbaugebiete in Südbayern.

April 2024: „Aktuell hat die Deutsche Telekom AG den Ausbau seit April gestoppt. Ich gehe davon aus, dass dieses Jahr nicht mehr gebaut wird“, heißt es in einer E-Mail des Unternehmens, das für die Telekom den Ausbau in Vaterstetten durchführt. Darauf angesprochen sagt Spitzauer im Juni gegenüber B304.de, dass die Gemeinde – sofern der Ausbau nicht weitergehe – die Pläne vom eigenen Netzbau wieder aus der Schublade holen werde.

Juni 2024: In einer Stellungnahme der Telekom an Bürgermeister Leonhard Spitzauer heißt es jetzt: “Wie ich Ihnen bereits telefonisch mitgeteilt habe, stehen meine Kollegen aus dem Vertrieb Kooperationen mit der Avacomm und deren Finanzinvestor zwecks einer möglichen Kooperation in Vaterstetten im engen Austausch. Beide Seiten befinden sich im guten Austausch und Dialog. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob in Vaterstetten nur ein Glasfasernetz von Avacomm oder Telekom gebaut wird und eine Nutzung für beide Seiten möglich ist. (…) Ohne Berücksichtigung einer möglichen Kooperation sehen wir derzeit für 2025 und 2026 einen potenziellen Eigenausbau der Telekom bis zu 5.000 HH. Dies allerdings in Abhängigkeit der Ressourcen- und auch Kostenentwicklung im Tiefbaumarkt.”