“Restlicht”

von Moritz Steidl

 

In diesen Tagen kann man es öfter am Rathaus in Haar beobachten: Verwundert bleiben die Menschen vor der Seiteneingangstüre stehen, schauen sich das große neue „Dach“ an, das hier seit kurzem steht – und wenn sie dann ihren Blick nach oben wenden, werden die Augen größer. „Restlicht“ heißt das Kunstwerk von Werner Mally, das an die Deportation und damit an die Ermordung Schutzbefohlener im T4-Programm des Naziregimes erinnert. Doch noch hat der stählerne Baldachin seinen endgültigen Standort in Haar nicht erreicht.

„Haar hat eine mutige Entscheidung getroffen“, bemerkte Kurator Dr. Stefan Graupner zur offiziellen Aufstellung des Kunstwerkes. Eine Gedenkskulptur dieser Art dauerhaft in der Gemeinde zu installieren, das ist auch eine echte Aussage – gerade weil Haar direkt betroffen ist: In Haar wurden während des dritten Reiches Menschen aus der Klinik in Vernichtungslager deportiert, bzw. in der Nervenheilanstalt vor Ort umgebracht. Und genau dort in der Klinik befin-det sich auch der endgültige Bestimmungsort des Kunstwerks: In Haar II, vor dem gemeindlichen Kindergarten Casinostraße, wird der spezielle Pavillon stehen.

Bild: Kurator Dr. Stefan Graupner, Bürgermeisterin Gabriele Müller, Künstler Werner Mally, Klinik Geschäftsführer Jörg Hemmersbach, Kuratorin Dr. Erika Wäcker-Babnik. (Foto: Gemeinde Haar)
Bild: Kurator Dr. Stefan Graupner, Bürgermeisterin Gabriele Müller, Künstler Werner Mally, Klinik Geschäftsführer Jörg Hemmersbach, Kuratorin Dr. Erika Wäcker-Babnik. (Foto: Gemeinde Haar)

Bürgermeisterin Gabriele Müller erläuterte, warum es momentan noch vor dem Rathaus aufgestellt ist: „Ein Kunstwerk im Umfeld von Baustellen, Kränen und Baggern – das ist einfach unwürdig.“, sagte sie. Das wäre jedoch nicht zu vermeiden, denn in den nächsten Jahren soll im künftigen Jugendstilpark Wohnraum entstehen. „Wir wollten es dann in der Zwischenzeit in Rathausnähe haben, um die Auseinandersetzung mit dem Thema und die Bedeutung für unsere Gemeinde zu unterstreichen“, erklärte Bürgermeisterin Müller. Sowohl der Künstler Werner Mally als auch der Geschäftsführer des Isar-Amper-Klinikums München-Ost Jörg Hemmersbach, sind mit dem temporären Aufstellungsort der Gedenkskulptur sehr zufrieden. „Das ist eine exponierte Lage“, freut sich der Klinikchef. Für Mally ist sein „Restlicht“ auch genau hier eine gute Mischung aus Treffpunkt und Schutzraum – der am Ende doch keiner ist.

Der Baldachin misst 4 mal 4 Meter und steht auf vier 2,70 Meter hohen Beinen. Ein Dach sozusagen. Doch durch die etwa 400 Bohrungen, die zusammen die Jahreszahlen der Deportationen von 1938 bis 1945 darstellen, kann es durchregnen. Das ist Mallys Symbolik dafür, dass während der Deportationen Ärzte ihre Schutzbefohlenen in den Tod geschickt hatten. Aber auch an sonnigen Tagen, wird diese Symbolik deutlich: Dann wirft das Kunstwerk „den Schatten der Geschichte“ auf den Boden, ja sogar auf die Haut der Leute, die sich darunter versammelt haben. „Restlicht“ ist also Mahnmal, Skulptur und potentieller Veranstaltungsort zugleich.

Die Haarer Skulptur ist die zweite ihrer Art – die erste, sozusagen der Prototyp, ist ein wanderndes Mahnmal, das seit 2012 bis heute in den sonnigsten Monaten des Jahres von Mai bis Oktober quer durch die Lande „reist“ und immer nur für ein paar Wochen fest an einem Ort steht. In Bad Ragaz (Schweiz) stand es am Bahnhof, in Geisenfeld bei Ingolstadt am Stadtplatz, in Berlin am Kulturforum, in Köln vor der Uni und in München am Siegestor – und überall brachte es die Menschen zum Nachdenken.

Auch in Haar bleibt das „Restlicht“ mit Sicherheit eine Besonderheit. „Es ist kein Grabstein der im Boden liegt und über den einmal Gras wächst“, sagt auch Künstler Werner Mally. Der einzige kleine Wehrmutstropfen für den Künstler: An dem Seiteneingang des Rathauses konnte das Kunstwerk aus Platzgründen nicht hundertprozentig richtig nach der Sonne ausgerichtet werden – doch das wird sich in einigen Jahren, wenn „Restlicht“ auf das Klinikgelände umzieht, ändern. „Dafür werden wir hier vor dem Rathaus noch eine Beleuchtung an das Werk anbringen“, verspricht Gabriele Müller. Damit die Menschen „Restlicht“ auch dann noch richtig wahrnehmen, wenn die Sonne einmal nicht scheint.