Schrill, bunt, laut – kein Fernsehformat bildete das Lebensgefühl Jugendlicher in den 80er-Jahren im Fernsehen so präzise ab wie „Formel Eins“ in der ARD. Oliver Bertram aus Neukeferloh war als leitender Redakteur Teil der Sendung. Noch heute bekommt der 51-Jährige regelmäßig Besuch von TV-Stars wie Hugo Egon Balder oder Musikern wie Ex-Modern Talking Sänger Thomas Anders. Dass der Vater einer Tochter in der Gemeinde Grasbrunn aufgewachsen ist, hat er übrigens dem armenisch-französischen Chansonnier Charles Aznavour zu verdanken. Im weitesten Sinne.
Oliver Bertram? Manche haben den Namen vielleicht schon einmal gehört, weil er sich für den Verbleib von Kugler Feinkost in Grasbrunn stark machte, andere, weil der Familienvater jüngst mit seiner Website „Grasbrunn wählt“ den zähen Wahlkampf in seiner Heimatgemeinde in Schwung bringen wollte. Der 51-Jährige ist in Neukeferloh aufgewachsen, lebt hier seit 1999 zusammen mit seiner Partnerin. Die beiden haben eine 10-jährige Tochter. Demokratie ist für Oliver Bertram eine Stimme. Sich unentgeltlich zu engagieren ist nicht umsonst, das hält die Gemeinschaft zusammen. Doch der leidenschaftliche Musikexperte ist weit mehr als nur vor Ort engagiert. Er springt von einer Aufgabe zur nächsten und hat dementsprechend reichlich zu erzählen.
Jeans, Kurzarm-Hemd, Baseball-Cap. Unauffällig tritt er auf, privat wie beruflich. Ein Mensch, dem es offenkundig nichts ausmacht, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Dabei wird in seiner Branche, den Medien, vor allem gedrängelt – mit lautem Hallo, Winken, Lachen, jeder versucht permanent mit Worten, Gesten, Kleidern zu beeindrucken. In seiner Selbstdarstellung mag Oliver Bertram zurückhaltend sein; umso klarer bezieht er Position, wenn es um etwas geht, das ihm wichtig ist.
Er sitzt in seinem großen Garten, gelassen und freundlich, spricht, wenn er angesprochen wird, hört ebenso gern zu. Sein Garten gehört zu einem Haus, das sein Vater Rainer, der bereits vor 16 Jahren gestorben ist, 1980 nach seinen Vorstellungen erbauen ließ. Eine Art bewohnbares Film- und Fernsehstudio. Hohe Decken für Scheinwerfer, jeder Winkel kameratauglich, überall massenhaft Steckdosen, im Keller ein Greenscreen-Studio, im Pool darunter lagern tausende Videokassetten.
Rainer Bertram, sein Vater, war nach abgebrochenem Architektur-Studium zunächst Schlagersänger und im Sommer 1960 auch als Schauspieler u. a. in der erfolgreichen Filmkomödie „Pension Schöller“ zu sehen. Als 1965 seine letzte Schallplatte erschien, hatte Bertram aber längst andere Zukunftspläne.
Bereits 1964 arbeitete er als Regieassistent beim Schweizer Fernsehen und beim Sender Freies Berlin. Zwei Jahre später stand der gebürtige Dachauer dann erstmals als Fernsehregisseur hinter der Kamera. Er führte unter anderem Regie beim „Eurovision Song Contest“ 1983 und inszenierte Porträts über Count Basie, Juliette Gréco, O. W. Fischer, Erroll Garner, Zarah Leander und Charles Aznavour. Letzteres wurde viel im Studio gedreht, aber es gab auch einige Außenaufnahmen. „Bei der Location-Suche fand mein Vater damals die Allee bei Möschenfeld und lernte auch Neukeferloh kennen, letztlich hat er dann das Grundstück hier gekauft, das Haus drauf gebaut und in München die Zelte abgebrochen.“
„Lustige Zeiten“
In der Garageneinfahrt parkte nicht selten über Jahre hinweg ein Ü-Wagen, überall lagen Kabel und bei Feiern nach den Dreharbeiten tummelten sich schon mal bis zu 500 Leute in dem Haus am Schwabener Weg. „Für mich war es ganz normal, dass bei uns immer prominente Menschen ein und aus gegangen sind – Rex Gildo, Roy Black, Nicole, Freddy Quinn, Udo Jürgens, auch Politiker wie Franz-Josef Strauß und viele mehr waren bei uns daheim. Wobei ich das nicht als besonders empfunden habe, weil das für mich einfach nur die Freunde meiner Eltern waren“, sagt Oliver Bertram. Seine Mutter, studierte Modedesignerin und ehemaliges Model, unterstützte den Vater damals organisatorisch und kümmerte sich um Kind und Haushalt. Bis sich das Paar Ende der 80er-Jahre scheiden lässt, weil die Oberflächlichkeit der Branche auch privat ihre Spuren hinterlassen hatte.
Oliver Bertram konnte all das nicht schrecken. Schon als 12-Jähriger heuert das Einzelkind beim BR als Kabelhilfe an – unter anderem bei „Dingsda“ oder „Telekoleg“. Bis er bei irgendeiner Sendung Bata Illic, auch ein Freund seiner Eltern, wiedersieht und der Schlager-Legende davon erzählt, dass er Kameramann werden möchte. Für einen Schulabbrecher ohne jeglichen Abschluss nicht gerade ein aussichtsreiches Unterfangen. „Am nächsten Tag klingelte das Telefon, Bata Illic war dran und sagte mir, dass er mir einen Termin bei den Bavaria Studios gemacht habe, ich solle mich dort melden.“ Völlig überrascht und mehr als glücklich macht sich der Neuferloher auf den Weg nach Grünwald und landet in der Redaktion der Kultmusiksendung „Formel Eins“. „Das war für mich, mit ‚Live aus dem Alabama‘ zusammen, die Sendung schlechthin.“
Im Radio moderieren damals Thomas Gottschalk und Günther Jauch. Die Grünen kommen nach Bonn, Deutschland singt „Ein bisschen Frieden“, und mit dem Mauerfall wird das Ende der DDR eingeläutet. Man trägt Jeans in Karottenform, dazu Jeansjacken und Seidenblousons mit Schulterpolstern. Dauerwellen, Schnurrbärte und das atomare Wettrüsten, Waldsterben und Helmut Kohl, Modern Talking und Tschernobyl, Aids und das Ozonloch – all das sind die 80er, rückblickend übrigens das Lieblingsjahrzehnt der Deutschen.
Zunächst als Praktikant katalogisierte Oliver Bertram damals an einem Commodore C64 Musikvideos in der „Formel Eins“-Redaktion. Nach etwas mehr als einem Jahr steigt er bereits zum 2. Redakteur auf. „Ich habe dort als 17,5-Jähriger wirklich jeden getroffen, der damals Rang und Namen hatte – von Elton John über Joe Cocker bis zu Bon Jovi oder George Harrison. „Das war einfach nur großartig, das war die beste Zeit überhaupt.“
Nach rund 3,5 Jahren ist für Oliver Bertram dennoch Schluss mit „Formel Eins“. Er folgt dem Ruf von RTL und geht nach Köln.
„Rammeln, Töten, Lallen“, so wurde in den Anfängen das Senderkürzel RTL in der Öffentlichkeit verunglimpft. Nackte Früchtchen bei „Tutti Frutti“, Klamauk-Nonsens bei „Alles nichts oder“, Rabaukentalk beim „Heißen Stuhl“, Zockershows wie „Der Preis ist heiß“. Barbara Eligmann war die unterkühlte Domina des Boulevards und Ulla Kock am Brink servierte Rattenfleisch als Mutprobe. „Erfrischend anders, mitunter erschreckend anders“ sollte das Privatfernsehen sein, wie der einstige RTL-Chef Helmut Thoma es formulierte. Der Aufruhr ob dieser Novitäten nimmt sich heute wie eine putzige Fußnote aus. Denn das war beileibe nicht alles, was die Privaten bis heute zu bieten hatten.
Den jungen Oliver Bertram fasziniert der Mut, Fernsehen einfach einmal ganz anders machen zu wollen, Dinge auszupobieren. Auf Rollschuhen rast der Neukeferloher die langen Gänge des Senders entlang. „Alles nichts oder“ heißt eine Sendungen, für die Oliver Bertram das Gästecasting machte. Köln ist aber so gar nicht seine Stadt, ihn zieht es zurück nach München. Dort trifft er bei einer Veranstaltung eher zufällig den Regisseur und Produzenten Holm Dressler, der von 1977 bis 1992 Film- und Fernsehprojekte von Thomas Gottschalk im Hintergrund leitete. Dressler und Gottschalk machten damals die wöchentliche Abendshow Gottschalk. „Dressler hat mir damals gesagt, dass sie gerade dabei sind die erste tägliche Late-Night-Show im deutschen Fernsehen zu starten und ob ich mir vorstellen könnte dort mitzumachen.“ Bertram sagt zu und findet sich in der Redaktion wieder. Wegen Unstimmigkeiten über die Inhalte der „Gottschalk Late Night“ mit RTL wurde das eigentlich erfolgreiche Team im Hintergrund jedoch nach einigen Monaten ersetzt. Letztlich gab es die Sendung auch nur rund 1,5 Jahre.
Und heute? Oliver Bertram ist ruhiger geworden. Als bekennende „Couchpotato“ ohne nennenswerte sportliche Ambitionen beschäftigt er sich mit Musik in Form von Biografien, Zeitschriften oder seinen 8.000 Schallplatten. Mit dem heute mutlosen und uninspirierten TV-Programm hat der Tausendsassa durch konsequente Abstinenz seinen Frieden gefunden. Sein Geld verdient der 51-Jährige längst mit der Produktion von Hörbüchern, bevorzugt Biografien großer Musiker. Und in seinem Greenscreen-Studio, das man übrigens auch mieten kann, dreht er Videos mit Stars wie Hugo Egon Balder, Thomas Anders und vielen mehr, Wahlsendungen mit Grasbrunner Bürgermeisterkandidaten oder einfach so mal eine Geburtstagseinladung.
Oliver Bertram genießt was er tut und tut, was er gerne macht. Selten eine Zigarette rauchen, aber niemals Alkohol trinken, mal vegan essen und dann wieder ein saftiges Stück Fleisch verdrücken. Mit Menschen zusammenarbeiten, mit denen es konstruktiv ist und Spaß macht, aber auf destruktive Dauernögler und Besserwisser verzichten. Und dann sind da natürlich auch noch seine Partnerin und die gemeinsame Tochter sowie seine 82-jährige Mutter Karin. Sie hat 25 Jahre in Burgund in der Nähe von Dijon gewohnt und ist im April 2019 nach München, genauer Neukeferloh, gezogen.