Bis 1970 ist Vaterstetten und Neu-Baldham zum Siedlungsschwerpunkt der Gemeinde Parsdorf geworden, Einfamilienhäuser mit großzügigem Gartenanteil gaben den Siedlungen das Flair einer „heimlichen“ Gartenstadt – mit Kino, freizügigen Filmen und Diskotheken. Die Dörfer blieben dagegen landwirtschaftlich geprägt. Wichtigen Anteil daran hatten die sechs Kartoffelbrennereien in der Gemeinde, deren Monopolrecht die Verfütterung der anfallenden Schlempe zwingend vorschrieb. So verzeichnete die Gemeinde in den 70er Jahren noch einen hohen Viehbestand. Ein Streifzug.
Die ursprüngliche Milchviehhaltung, zunehmend aber die weniger arbeitsintensive Bullenmast bestimmten die Viehhaltung. Großflächiger Silomaisanbau lieferte das notwendige Grundfutter. Neben Braugerste für die Münchener Brauereien und den Kartoffelanbau für Brennereien und das Pfanni-Werk, wurde damals Silomais zur drittwichtigsten Kulturfrucht in unserer Gemeinde. Wiesenflächen waren fast gänzlich verschwunden.
Bayernweites Interesse erregte der außergewöhnliche, neu errichtete Aussiedlungsbetrieb von Landwirt Hans Luft. In offenen Blechhallen mit Freilauf waren 60 Milchkühe untergebracht, die täglich mit frischem Gras versorgt wurden, das nachts von den Grünflächen entlang der Startbahn des Flughafens Riem gemäht wurde. In zwei riesengroßen Harvestore Silos lagerte die Silage für die Wintermonate. Mechanisierung und Spezialisierung waren die Schlagworte, die den Wandel in der Landwirtschaft begleiteten. Wegen Abwanderung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte wurde der Ein- Mann-Betrieb propagiert.
Baugrundstücksveräußerungen schufen häufig das finanzielle Polster, um mit Baumaßnahmen und Maschinenausstattung mit dem Strukturwandel Schritt halten zu können. Bauland wurde aber auch dringend gebraucht, als München sich für die Olympiade 1972 rüstete. Der Bau der S-Bahn befeuerte die Siedlungsentwicklung in Vaterstetten und Baldham. Die Reihensiedlung an der Millöcker-Straße und letztendlich der Bau der Bayerbodensiedlung geben Zeugnis davon. Städtebauliche Verträge sicherten dabei die Voraussetzung für eine wünschenswerte Infrastruktur der im Jahre 1978 neu gebildeten Gemeinde Vaterstetten. Sie besteht aus den Ortschaften der Gemeinde Parsdorf zuzüglich den Baldhamer Siedlungsgebieten aus der Gemeinde Zorneding und der Waldkolonie Pöring.
Bereits 1972 konnte ein neues Rathaus in Vaterstetten errichtet werden. Dazu eine moderne Stützpunktfeuerwehr. Des Weiteren eine zusätzliche Grund- und Hauptschule mit Schwimmbad, gleichzeitig bekam Vaterstetten ein Gymnasium und eine Bücherei.
Bürgermeister Martin Berger stellte fest, dass viele nach München orientierte Neubürger mit einem hohen Bildungsabschluss ihr neues Zuhause in Vaterstetten und Baldham fanden. Eine Tatsache, die seiner Gemeinde den Beinamen „Akademiker-Gemeinde“ einbrachte. Bildungs- und Kulturangebote bekamen einen hohen Stellenwert. Der Befürchtung, Vaterstetten könnte sich zur Schlafstadt entwickeln, begegneten viele Neubürger mit ihrem Engagement am öffentlichen Leben ihrer neuen Heimatgemeinde. Bildungs- und Kulturräume wurden geschaffen und erlaubten die Gründung einer VHS und einer Musikschule. Im Lichthof des Rathauses etablierten sich Konzerte und Ausstellungen.
Freizeitaktivitäten waren jedoch wenig geboten. In der alten Kegelbahn im Biergarten der Gaststätte „Gerrer“ trainierten die Altschützen, um anschließend noch eine Runde zu kegeln. Fernsehkonsum zuhause hatten leere Gaststuben zur Folge. Wirte kämpften um ihre Existenz und nicht wenige gaben auf, als noch dazu ein teurer Abwasser-Kanalanschluss gefordert wurde. Lediglich das alte Vaterstettener Kino am Sonnenweg, durch dessen Saal die Landkreisgrenze verlief, erlebte in den 70er Jahren eine Renaissance, weil in der Zeit der „sexuellen Befreiung“ immer häufiger freizügige Filme gezeigt wurden. Unter anderem auch einige, die in Vaterstetten gedreht wurden. Es war ein letztes Aufbäumen gegen das Kino-Sterben, das in den folgenden Jahren einsetzte.
Die erste Diskothek war im „Porto Fino“ am Karwendelplatz in Baldham und eine neue Diskothek entstand im ehemaligen Schlachthaus der Gaststätte „Gerrer“, dem heutigen „Maxinger“. Sie zogen junges Publikum an und befeuerten das Vaterstettener Nachtleben. Bald gab‘s den Rolfs-Club im alten Vaterstettener Schulhaus, zudem das Baccara am Fuchsweg in Baldham. Aber auch Traditionen wie Faschingsumzüge wurden wiederbelebt. Die Feuerwehr Vaterstetten stellte 1970 erstmals wieder einen Maibaum auf und wenige Jahre später gab‘s ein Sonnwendfeuer. Veranstaltungen, die heute zum Jahresritual gehören.
So wurde Vaterstetten in den 70er Jahren schon zu einer sehr lebendigen Gemeinde, wenn auch noch Angebote für Sport- und Freizeit auf sich warten ließen.