Das sündige Dorf

von Georg Reitsberger

Die 70er und 80er Jahre waren nicht nur prägend für das Lebensgefühl in München. In der Zeit der sogenannten sexuellen Befreiung gab es Veränderungen, die in früheren Generationen undenkbar gewesen wären und – erstaunlicherweise – auch heute wieder unvorstellbar sind.

Auch in unserem Elternhaus ist uns das Thema Liebeslust weitgehend vorenthalten worden. Bis zum Gernhaben, Kopf verdrehen und Bussln ging unser Aufklärungsunterricht, aber nicht weiter. Selbst im Kuhstall war kein leibhaftiger Stier im Dienst. Seine Arbeit erledigte der Besamer, der angerufen wurde, wenn eine Kuh stierig war. Auch bei der Geburt eines Kalbes wurden wir ferngehalten. Da ist nämlich der „Holzfuchs“ gekommen und den Müttern hat der Storch Nachwuchs gebracht, was wir aber schon bald bezweifelten. Ältere Freunde und Schulkameraden weihten uns dann doch in das Thema der Geschlechtlichkeit ein.

Die lebhaften Diskussionen zu einer Schwangerschaftsverhütung mit der Anti- Baby-Pille und die gesellschaftliche Veränderung, die sich dadurch in den 70er Jahren anbahnte, führte in der älteren Generation zu einem Kulturschock. Die unzüchtige Werbung in der geliebten Tageszeitung für freizügige Aufklärungsfilme, deftige „Heimatfilme“ und „Schulmädchen- Reporte“ veranlasste unsere Großmutter dazu, diese schamlosen Bilder mit einer Schere aus der Tageszeitung zu entfernen.

Leider wurden dabei die Bundesliga-Ergebnisse auf der Rückseite sehr lückenhaft. Das erzürnte meinen Bruder Ernst, einen leidenschaftlichen 60er Anhänger, aufs heftigste. Wehrlos verzichtete Oma in der Folge auf die gut gemeinte Zensur. Zusehends musste sie feststellen, wie die Röcke so mancher sittsamer Damen immer kürzer wurden. Zusammen mit der Schneiderin aus Wolfesing, bekannt als „Wolfesinger Tagblattl“ (eine leibhaftige Kopie der Münchner Ratschkathl), wurde gemeinsam über die Sündhaftigkeit der Welt geklagt. Nur ein Beispiel von vielen: „Ja, die Weiber, mit dem Minirock sind sie im Garten. Wenn sie sich bücken, schaut der ganze Arsch raus. Schämen tun sie sich gleich gar nicht, die Lousna (weibl. Schwein). Na, na, na, die Welt ist schlecht geworden!“

Auch die Langhaarigen (Beatles) mit ihrer depperten Musik wurden kritisiert. Sie machen nur Lärm in den Diskotheken. Es gab damals ja bereits eine Disko in Vaterstetten, die im ursprünglichen Schlachthaus der Familie Gerrer eingerichtet wurde. Nicht weit entfernt etablierte sich im alten Schulhaus der „Rolf´s Club“. Vornehm mit Türsteher und nur mit Reservierung und Gedeck gab es Einlass. Beide hatten einen Riesenzulauf, die Dorfstraße war gänzlich zugeparkt und die Nachtruhe zusehends gestört.

Enormen Zulauf verzeichnete auch das alte Kino in der Sonnenstraße, nahe dem Vaterstettener Bahnhof. Freizügige Filmankündigungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Oswald Kolle mit seinen Aufklärungsfilmen, die bekannten „Schulmädchen- Reporte“ und frivole „Heimatfilme“ füllten die Sitzreihen mit Scharen von jungen Besuchern. Ja, auf Bildung und Unterhaltung wurde Wert gelegt! Kino war mehr als Fernsehen – damals noch mit „Schneegestöber“ um Mitternacht. Im Englischen Garten tummelten sich derweil die Nackerten und nicht nur am Feringasee wurde auch nackt gebadet. Sogar an Vaterstettener Waldrändern traf man auf hüllenlose Sonnenanbeterinnen, die kaum Notiz von einem nahmen oder aber freundlich grüßten. Sogar bei Mäharbeiten sprangen Splitternackte aus dem hohen Gras und machten sich gemächlich auf den Weg. Der verdutzte Lehrling, der mit dem Mähen beauftragt war, traute sich kaum hinzuschauen.

Anschauen musste man sich aber so manche Filme, die Ortsbezug hatten. Mit dabei war der Ziegenbock meiner Frau, der sogar ein kleiner Filmstar wurde. Er war zwar nicht beim Heimatfilm: „Unterm Röckchen stößt ein Böckchen“ dabei, aber eine solche Szene hat sich tatsächlich auf unserem Hof zugetragen, als sich der Bock beim Füttern unter dem Rock von Frau Raschel verfangen hatte und diese lauthals um Hilfe schrie.

Aufregend Neues verliert aber schnell an Attraktivität und so mussten auch unsere Diskotheken wieder pushen, um weiterhin Zulauf verzeichnen zu können. Eine neue Masche war die „Oben Ohne Bedienung“ in der Diskothek Gerrer. Nach manch langweiligen Vereinsabenden war man schnell überredet, mitzugehen, um noch ein barbusig serviertes Bier zu bekommen. Sogar den 2. Bürgermeister Philipp Maas versuchte man zu überreden. Er lehnte aber dankend ab – wegen der Befürchtung, der Kellner könnte vielleicht versucht sein, „mit seinem Pimmel im Bier zu rühren“. Zu später Stunde gab es öfters noch Striptease von der Finni, hüllenlos zeigte sie sogar noch Darbietungen mit einer Kerze, während sich im „Rolf´s Club“ etablierte Männergesellschaften zusammenfanden.

Aus Vaterstetten war ein sündiges Dorf geworden. AIDS, eine Geißel Gottes, bereitete schließlich dem Treiben ein jähes Ende. Aus der Disco beim Gerrer wurde ein Getränkemarkt. Der „Rolf´s Club“ in der ehemaligen alten Schule erlitt einen Brandschaden, das Gebäude wurde abgebrochen, eine weitere Diskothek, das „Baccara“ in Baldham wurde, ebenfalls ein Raub der Flammen. Und das ehemalige alte Kino in Vaterstetten fiel dem allgemeinen Kino-Sterben zum Opfer.

Was bleibt, sind die Erinnerung an eine lebensfrohe, spannende Zeit, die uns viele Freiheiten bescherte. Freiheiten in einer Form, wie sie heute nicht mehr denkbar wären.