Wer ein Kind von über fünf Jahren hat, der kennt den Satz: „Du bist nicht mein Bestimmer!“ Das traf auf alle rund 50 Teilnehmer des neuesten, wie immer gut besuchten Vortrags in der Grundschule Baldham zu. Wer was wann bestimmt in einer Familie, das ist häufig der Knackpunkt. Die Familientherapeutin Gisela Wagner schöpft aus über 40 Jahren Berufserfahrung und stärkte die Eltern mit ihren Vorschlägen zum Thema „Konflikte bewältigen – Grenzen setzen in Alltagssituationen“.
„Ja, Eltern sind die Bestimmer, weil sie die Verantwortung tragen“ – damit bezog Gisela Wagner Stellung zu dem oft gehörten Kindergartensatz. Damit sind sie dann eben „gemein, ungerecht und blöd“ – und das sei völlig normal: „Das Kind muss das nicht einsehen, es ist schließlich ein Kind“, so Wagner. Dem zugrunde liegt der Konflikt zwischen der Fremdbestimmung durch die Eltern und dem Wunsch nach Autonomie.
Um den Konfliktstoff zu reduzieren, schlägt die Familientherapeutin ein Dreisäulenmodell vor: den Entscheidungsbereich der Eltern, den der Kinder und einen verhandelbaren Bereich.
Die Eltern sind für Sicherheit und Gesundheit zuständig, für die Tagesstruktur und das Wertesystem. Kinder wiederum bestimmen, wer ihre Freunde sind, was sie spielen wollen, wie viel sie essen, was sie anziehen und wofür sie ihr Taschengeld ausgeben. Die Grenzen setzen die Eltern, z.B. wenn das Kind zu viele Süßigkeiten kaufen will oder wenn wegen dünner Kleidung eine Erkältung droht.
„Wie viel bleibt da noch übrig als Verhandlungsmasse?“ Diese Frage in die Runde brachte wenig Antworten, denn verhandelbar ist damit nur ein kleiner Bereich.
Wo der Wunsch nach Autonomie aufkommt, müsse er ernst genommen werden. Aber allzu oft seien es die Eltern, die den Kindern die Verantwortung abnähmen. Wer etwas ausschüttet, der müsse es aufwischen. „Aber wir nehmen lieber selber den Lappen“, führte Wagner unter selbstkritischem Nicken vieler Zuhörer aus: „Das Verwöhnaroma behindert das Kind in seiner Entwicklung. Sie gewöhnen sich das logische Denken ab.“ Umso wichtiger sei es, diese logischen Konsequenzen im Alltag aufzuzeigen.
Eine Mutter brachte dazu das häufige Konfliktthema Hausaufgaben ins Spiel: „Wie viel Eigenverantwortung darf da sein?“ Man solle das Kind sicher nicht in den Brunnen fallen lassen, machte Gisela Wagner deutlich. Eine Möglichkeit sei, das Szenario in der Schule am nächsten Tag auszumalen. Wie fühlt es sich an, vor der Lehrkraft Farbe zu bekennen? Oder das Hausaufgabenheft vorzuzeigen, in das die Eltern geschrieben haben: „Mein Kind hat keine Hausaufgaben gemacht, es hatte null Bock“. Diese konkrete Vorstellung helfe weiter, so Wagner.
Apropos: Müssen Eltern immer jede Grenze erklären, alles bis aufs letzte durch erklären? „Nein“, sagt Gisela Wagner klipp und klar. „Das Kind muss es nicht gut finden. Uns ist die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen, Dinge einfach zu tun, ohne es bis zum letzten erklärt zu bekommen. Rechtfertigen lädt zum Diskutieren ein.“ Überhaupt würde die Wirkung des Wortes überschätzt, so Gisela Wagner weiter: „Wir lernen nur zu sieben Prozent aus Worten, der Rest ist Nachahmung, vor allem bei kleineren Kindern, und eigenes Erleben.“
Grenzen würden im Übrigen von Kindern gar nicht als grundsätzlich negativ wahrgenommen: „Kinder erfinden selbst Grenzen beim Spielen. Das brauchen sie auch zur Abgrenzung. Wer sich nicht abgrenzen kann, wird Ziel von Übergriffen“, führte die Referentin den Gedanken weiter. Es sei doch das Ziel von allen, dass aus den Kindern eigenverantwortliche, starke Erwachsene würden. Bis dahin müssten die Eltern sich auf ihren Auftrag und ihre Elternrolle berufen: „Eltern müssen die Führung übernehmen. Die Kinder führen uns auf Irrwege, das tun sie nicht absichtlich. Aber wenn sie spüren, dass wir den Kurs nicht halten, dann führen sie.“
Was aber, so eine Frage aus dem Publikum, wenn die Eltern sich nicht einig sind? Dann ist Problemlösung und Kompromisssuche nach Erwachsenenart gefragt, so die Expertenantwort. Gerne auch vor den Kindern. Wichtig sei es, beide Standpunkte ernst zu nehmen: „Ein Sowohl-als-auch schafft Gewinner, das Entweder-oder schafft Verlierer, denn es ist ein Machtspiel“, so Gisela Wagner. An einem Beispiel aus ihrer Praxis, nämlich extrem gegenläufiger Ansichten von Tischregeln, führte sie aus, wie das gehen könnte: „Sie machen klar, wer bei welcher Mahlzeit die Federführung hat, dann wissen die Kinder, wie es läuft und nach wessen Regeln.“
Und so ist es letztlich doch ein Sowohl-als-auch in der Bestimmer-Frage. Eltern und Kinder bestimmen in ihrem jeweiligen Bereich, mit einem elterlichen Veto-Recht in wichtigen Fragen. Dann ist es vielleicht auch nicht mehr so schlimm, wenn der Ober-Bestimmer ohne Endlosdebatte eine klare Grenze zieht.