Stolz präsentierte unser Papa am 2. Februar 1960 den Opel Rekord, den er als Gebrauchtwagen von der Firma Dillitzer aus Feldkirchen erwerben konnte. Eine Familienkutsche, mit der unsere Mutter kurze Zeit darauf zur Entbindung unseres Bruders Gottfried in die Frauenklinik Maistraße in München gefahren werden konnte. Für Besorgungsfahrten und kleine Ausflüge war der geräumige Opel eine gute Anschaffung für unsere wachsende Großfamilie. Es war in einer Zeit, in der das Leben unserer Gemeinde noch vom Kirchenjahr geprägt war. Der sonntägliche Kirchgang war allgemein üblich, die kirchlichen Hochfeste wurden gebührend gefeiert und die Fastengebote gehalten.
Am Freitag verzichtete man auf Fleischspeisen. Meine Familie war in besonderer Weise mit dem kirchlichen Brauchtum und dem Leben in der Kirchengemeinde verbunden. Mein Großvater väterlicherseits war jahrzehntelang Kirchenpfleger der Dorfkirche Vaterstetten, die Großeltern mütterlicherseits hatten ein gleiches Amt in der Dorfkirche Baldham. Meine Mutter absolvierte eine Ausbildung zur Kirchenmusikerin und von da an war sie aktiv im kirchenmusikalischen Geschehen, sogar über Gemeindegrenzen hinaus. Sie hatte wesentlichen Anteil an der Gründung des Vaterstettener Kirchenchors. Viele festliche und traurige Anlässe, Hochzeiten und Beerdigungen, begleitete Sie mit Orgelspiel und Gesang. Als Ministrant fand auch ich meinen Weg zur aktiven Kirchengemeinde. Große Teile der katholischen Messfeier wurden vor dem Konzil 1964 noch in lateinischer Sprache gelesen. So musste ich als kleiner Ministrant das Stufengebet in lateinischer Fassung sprechen. Für einen bayerisch sprechenden Buben war das schon eine Herausforderung. Aber zusammen mit meinen Brüdern wurde ich nicht nur eifriger Ministrant, wir waren auch jedes Jahr gern gesehene Heilig Drei Könige, die ihr gesammeltes Geld einer verwandten Schwester Oberin für arme Kinder in der Mission spendeten.
Neben unserer Tätigkeit zum Drei Königs Fest fanden sich auch noch erwachseneMänner ein, die durch ihr Auftreten als Kinderschreck wahrgenommen wurden aber mit ihren Neujahrs-Wünschen doch genügend Sammelgeld zusammenbrachten, welches für ein Besäufnis im nächsten Wirtshaus reichte.
Eltern und Großeltern achteten mit Bedacht auf unsere christliche Erziehung. Spürbar war dies schon am Mittagstisch, wenn vor einer dampfenden Kartoffel- oder Knödelsuppe ewig lang gebetet wurde. Auch nach dem Essen war das Gebet nicht viel kürzer und nicht selten hatte dabei unser lieber Papa mit ständigem Sekundenschlaf zu kämpfen. Ein strenges Auge richtete auch der Rektor unserer Volksschule Vaterstetten auf seine Schüler, wenn er als Organist bei Schülergottesdiensten tätig war. Sittsam und fromm mussten die Schüler der Messe beiwohnen. Wenn „Gaudiburschen“ aus der Reihe tanzten, entfesselten sie seinen heiligen Zorn. Zwei ältere Schüler holten den Störenfried auf die Empore, wo dieser sogleich die kräftige Handschrift des Pädagogen zu spüren bekam. Mit gesenktem, hochrotem Kopf ging es dann wieder zurück in die Kirchenbank zu seinen hämisch grinsenden Klassenkameraden. Natürlich erfuhren dessen Eltern nichts davon. Ich selbst bekam im Gotteshaus eine Watschn links und rechts, aber zu Unrecht. Während einer langen Predigt übermannte meinen neben mir sitzenden Bruder der Schlaf und ich richtete ihn immer wieder auf. Ein älterer Kirchgänger aus der hintersten Reihe bemerkte die Unruhe in der Knabenbank und machte mich als Unruhestifter aus, der eine gerechte Strafe verdient hatte.
Zuhause waren wir von Kindesbeinen an in das Betriebsgeschehen der elterlichen Landwirtschaft eingebunden. Täglich den „Gsetkasten“ (Heuabwurfschacht) befüllen und nach dem Mittagstisch gemeinsam das Schlempefass in den Stall schieben gehörten zu den täglichen Pflichten. Dazu halfen wir mit beim Ausmisten und hielten tagsüber den Liegeplatz der Kühe sauber. Bei Feldarbeiten mussten wir an der Sähmaschine den Spurreißer bedienen und bei der Kartoffellegemaschine auf die Befüllung der Schöpfbecher achten. Das Kartoffelhacken und die wochenlange Kartoffelernte im Herbst wären ohne unserer Mithilfe schier nicht möglich gewesen. Sehr arbeitsintensiv war auch die Heuernte. Um gutes Heu zu bekommen, wurde es zum Trocknen auf Heuheinzen gehängt, die dann reihenweise auf Wiesen und Kleefeldern standen. Nicht selten wurden sie von heftigen Gewitterstürmen umgerissen und mussten neu aufgerichtet werden. Erwähnenswert ist allerdings noch, dass wir bei Feldarbeiten bereits mit sechs Jahren unsere Fahrkünste auf dem Eicher-Traktor beweisen konnten. Ein unverwüstlicher Bulldog der heute noch auf dem Reitsberger Hof unentbehrlich ist.
Der Bauernhof mit Heuboden, Strohlager, finsterem Kartoffelkeller sowie Bäumen, Wald und Weide war unser Refugium. Große Freude hatten wir immer an riesigen, warmen Pfützen, die sich nach heftigen Gewittern bildeten. Gerne konnten wir auf Kinderspielplätze verzichten, die es in den 60er Jahren ja noch gar nicht gab. Selbst Urlaub war für Bauern und für uns Kinder etwas Unbekanntes.
Im Sommer ging es gelegentlich mit dem Fahrrad in das Haarer Freibad, weil ja in unserer Gemeinde kein offenes Gewässer zu finden war. Der „Fidschi“ (Heimstettener See) als Baggersee war für den normalen Badebetrieb damals noch zu gefährlich.
Unser eigenes Auto ermöglichte zunehmend Sonntagsausflüge für die wachsende Familie. Verwandtenbesuche, der Besuch von Papas Kriegskameraden und auch der Tegernsee und das Gebirge wurden zum großen Hit unserer Ausflugsziele. Ab Mitte der 60er Jahre nahm ein Grundig Schwarz-weiß-Fernseher seinen Platz im Wohnzimmer ein und zum Ende des Jahrzehnts hatten wir auch einen eigenen Telefonanschluss. Dieser natürlich abschließbar, damit die acht heranwachsenden Kinder nicht ständig an der Strippe hängen konnten. Als Jugendliche erlebten wir den Anfang wilder Jahre, die sich am Ende der 60er Jahre ankündigten. Die Fortzsetzung (70er Jahre) lesen Sie in der nächsten Ausgabe.