Er war der älteste aktive Kommunalpolitiker Bayerns – bis vor wenigen Tagen: Ende September verabschiedete sich Horst Wiedemann in Haar im Alter von sagenhaften 91 Jahren nach einem halben Jahrhundert vom Stadtrat. Wer aber denkt, da schloss einfach ein „alter Mann“ die Rathaustüre hinter sich, der irrt gewaltig. Horst Wiedemann ist ein echtes Phänomen, quasi das Haar-Gedächtnis und -Wissen auf zwei Beinen. Und zudem ein ganz besonderer Mensch, der viel bewegt hat – und der selbst eine bewegende Geschichte hat.
„Ich war kein politischer Mensch.“ Diesen Satz mag man Horst Wiedemann irgendwie nicht abnehmen. Schließlich hat er in fünf Jahrzehnten für Haar mit großem Herzblut alle möglichen Themen beackert und auch mal leidenschaftlich gekämpft. 50 aktive Jahre, das sind alleine 1.200 Ausschuss- und Ratssitzungen. Mit Besprechungen, Fraktionssitzungen und Arbeitsgruppen verdoppelt sich diese Zahl mit Sicherheit locker.
„… einfach auch mal selber machen“
Doch Wiedemann versichert: Vor 1966 wäre er politisch nicht aktiv gewesen. Er war zu der Zeit schließlich Fußballer, ein ganz begabter Mittelstürmer und ein paar Mal sogar Schützenkönig in seinem Verein – dem TSV 1860. Sport war sein Steckenpferd, erzählt er begeistert. Doch dann hat ihn der damalige Bürgermeister Willy Träutlein angesprochen. „Herr Studienrat, möchten Sie nicht bei uns kandidieren“, hatte der gefragt. Bei uns, das war die Haarer SPD. Wiedemann war damals bereits Lehrer am Grafinger Gymnasium, seine Fächer: Wirtschaft und Recht, Erdkunde und Sozialkunde. „Und dann hab ich mir gedacht: Wennst immer davon erzählst, dann machs doch einfach auch mal selber“, sagt er
auch heute noch mit Nachdruck.
Erinnerung an steinige Wege
An diesen Tag erinnert er sich noch genau, obwohl das fast 60 Jahre her ist. Überhaupt erinnert sich das Haarer Politik-Urgestein noch an so vieles ganz genau. Dieses Gedächtnis lässt den Zuhörer fast sprachlos zurück. Jede Jahreszahl hat er auf Anhieb parat, manchmal schließt er kurz die Augen und korrigiert das oft weitzurückliegende Datum dann um ein paar Monate. Dabei gibt es in Wiedemanns Geschichte auch eine ganze Reihe Momente, die manch anderer bestimmt lieber vergessen hätte. Es waren steinige Wege, die er gehen musste – immer wieder. Und dennoch hat er nie aufgegeben. Und am Ende stand fast immer ein Erfolg.
Neue Heimat in Haar
Aber von vorne: Geboren ist Horst Wiedemann 1934 in Kloster Grab, „am Fuße des Erzgebirges“ – im Sudetenland. Doch allzu lange sollte seine unbeschwerte Kindheit nicht anhalten: zunächst war Krieg, dann die Vertreibung. Nach einigen Zwischenstationen kam er mit seiner Familie schließlich nach Haar, hier war ein ganz neues Viertel für die Heimatvertriebenen entstanden – das Musikerviertel. Bis heute ist es das Zuhause von Horst Wiedemann. Denn hier hat er nicht nur eine neue Heimat, sondern auch sein persönliches Glück gefunden – in Form des Nachbarmädchens Helga, die Tochter vom Architekten der Siedlung. Drei Kinder haben die beiden bekommen, fünf Enkelkinder und 2 Urenkel folgten und sie verband auch eine besondere Mission: Sie setzten sich für Haar ein, in vielfältiger Weise.
Haar gestaltet – schon vor der Gemeinderatszeit
Horst Wiedemann wurde 1966 zwar bei seiner ersten Kandidatur noch nicht in den Gemeinderat gewählt – dafür war sein Listenplatz zu weit hinten – aber er war 1967 einer von sieben Gründungsmitgliedern des „Vereins zur Gründung weiterführender Schulen im Osten Münchens“.
Für Haar war das Ziel ein Gymnasium, das schließlich als Ernst Mach Gymnasium 1972 eröffnete. Außerdem war er ab 1968 im Vorstand der Sudetendeutsche Landsmannschaft, denn wie es der Zufall wollte, traf Wiedemann seinen Kindheitsfreund aus dem Sudetenland in Haar wieder: Rainer Schmidt. Die beiden engagierten sich im Verein, in dem Schmidt bis zu seinem Tod aktiv war und Horst Wiedemann bis heute Obmann ist.
Schwerpunkt Schule
1972 zog Horst Wiedemann dann schließlich für die SPD in den Gemeinderat ein. Von da ab war er – mit insgesamt 3 Jahren Unterbrechung – ständiges Mitglied des Gremiums. Einer seiner Schwerpunkte war immer das Thema Schule – egal ob für die ganz Kleinen, die Jugendlichen oder die Erwachsenenbildung.
Ortsmitte erkämpft
Die 70er und 80er waren nach Wiedemanns Meinung nach die prägendsten Jahrzehnte für Haar, die er politisch mitgestaltet hat. Aber auch mit die härtesten. „Das waren reine Kampfjahre“, sagt er. Da hat man – zeitweise als SPD-Minderheit im Gemeinderat – für die Gestaltung der Ortsmitte gekämpft. Themen war unter anderem der Erhalt und Umbau des Rathauses oder der Bau des Maria Stadler Hauses. Er war sogar Mitglied der Jury des Gestaltungswettbewerbs, bei dem schließlich der Entwurf von Gert Goergens als Gewinner hervorging.
Zu dieser gelungenen Ortsmitte gehörte aber auch, dass das „Inselfilm-Gelände“ zurückgekauft wurde. Darum wurde viel gerungen, sogar gestritten – mit erzürntem Verlassen des Sitzungssaals einiger Ratsmitglieder, wie sich Wiedemann erinnert. Wie wichtig dieser Schritt gewesen sei, das könne man aber heute eindrücklich sehen. „Wir hätten keinen Gasthof, kein Bürgerhaus, keinen Poststadel, kein Familienzentrum“, zählt Wiedemann auf. „Es lohnt sich, wenn man kämpft und einen langen Atem hat.“
Zeit der Vernetzung
Die 90er-Jahre waren für ihn dann die schönsten im Rat. Wenn der 91-Jährige darüber spricht, merkt man ihm die Rührung deutlich an. Es war die Zeit der Vernetzung, des überparteilichen Konsens. Tatsächlich gingen seine engen Bindungen über die eigene Fraktion hinaus: der Kindheitsfreund Rainer Schmidt war Fraktionsvorsitzender der CSU und auch dessen Parteikollege und Baureferent Hans Stießberger war ihm lange bekannt. Genauer gesagt, war der einmal Wiedemanns Schüler, wie er mit seinem typischen spitzbübischen Lächeln preisgibt. Der SPD-Mann selbst war in jenen Jahren Fraktionsvorsitzender und Schulreferent. Diese konstruktive und produktive Zusammenarbeit für Haar
freut ihn bis heute. Und genau das wünscht er dem Gremium auch für die Zukunft: Zusammenarbeiten und immer das große Ganze im Blick haben.
Alle kommunalpolitischen Ziele erreicht
Ein Rückblick? Eigentlich sind all seine Ziele und Wünsche erfüllt worden. Auch wenn manches lange gedauert hat: 10 Jahre bis die Ortsmitte da war, 19 Jahre bis die Musikschule ein eigenes Gebäude hatte. Zuletzt erfüllte sich sogar noch etwas, bei dem er sich vor 25 Jahren gescheitert sah: Damals hatte Wiedemann mit Stießberger einen Antrag zur Stadterhebung Haars gestellt. Der Antrag war damals gescheitert. Doch in seinem letzten Mandatsjahr hat sich dieser Traum auch noch erfüllt:
Haar ist Stadt. Jetzt scheint alles eine runde Sache für ihn zu sein. Eine gute Zeit aufzuhören – genau nach 50 Jahren. Und mit einigen Auszeichnungen und jeder Menge Anerkennungen im Gepäck.
Im Rückblick eine glückliche Zeit
Was bleibt zu sagen? Horst Wiedemann ist eher ein Marathonläufer als ein Sprinter. Er ist ein Mann, der Haltung hat und durchhält. Im Rückblick sagt er, es war eine glückliche Zeit. Dabei füllen sich die blauen Augen dann doch ein wenig mit Tränen. Kein Wunder. Das Leben hat ihm nichts geschenkt und doch hat er so viel erreicht. Sein Motto scheint einem bekannten „Kalenderspruch“ zu entsprechen: Gibt dir das Leben Zitronen, mach Limonade draus. Genau so kam Horst Wiedemann übrigens auch zu seiner Berufswahl: Er hatte fürchterliche Lehrer am Gymnasium – und beschließt deshalb, ein besserer zu werden. Genau das ist ein echter Wiedemann.

Die Stadt dankt Horst Wiedemann für das unfassbare Engagement, die Liebe zu Haar, den unschlagbaren Optimismus und das Durchhaltevermögen. Mit 91 in den Ruhestand – das ist mehr als verdient.