Ali konnte nicht schwimmen: „In Afghanistan habe ich das nie gelernt“, erzählt Ali Ahrar der aktuell wahrscheinlich berühmteste Auszubildende der Gemeinde Haar. Ali ist 21 Jahre alt und hat eine Geschichte zu erzählen. Seine Geschichte. B304.de besuchte ihn zweimal im Haarer Freibad. Zwei Besuche, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.
„Mir ist wichtig, dass meine Familie bei mir bleibt“, antwortet Ali mir, dem B304.de-Reporter, kurz vor dem Ende unseres ersten Gesprächs Mitte Mai auf die Frage, was er noch loswerden möchte. Jetzt, zwei Monate später ist die Situation eine komplett andere: „Ich soll abgeschoben werden. Aktuell kämpfe ich mit einer Anwältin dagegen. Meine Familie ebenfalls“, erzählt Ali sichtlich ergriffen an einem trüben Sommermorgen im Haarer Freibad. Doch der Reihe nach. Alis außergewöhnliche Geschichte startete bereits 2012.
Verstecken und Fliehen vor den Taliban
Vor vier Jahren wird Alis Vater in Afghanistan von den Taliban verfolgt, sein Bruder wird enthauptet. Die Familie entschließt sich zu fliehen – in die Niederlande zur Tante. Doch das geht nicht von heute auf morgen. Ein Jahr versteckt sich die Familie bei einem Bekannten in Afghanistan. Die Fenster verhängt, alles Hab und Gut verkauft, um die teure Flucht zu finanzieren. Schwer zu verstehen für jemanden wie mich, der in Deutschland lebt, in dem Untertauchen nahezu unmöglich ist. „Verstecken in Deutschland würde nicht gehen, wegen der Polizei und so weiter. In Afghanistan ist das einfacher, da sucht einen keiner. Wir haben einfach zunächst alles ausgewechselt, zum Beispiel die Handykarte, damit uns keiner von den Taliban findet“, klärt Ali auf.
Schließlich reist die Famile Richtung Europa, an die genauen Stationen kann sich Ali nicht mehr erinnern, alles geht schnell, alles schaut gleich aus. Irgendwann steigen sie in den falschen Zug, irgendwo in Deutschland. Und die Polizei findet die fünfköpfige Familie, bestehend aus Ali, zwei jüngeren Brüdern sowie Vater und Mutter. Sie werden zunächst für drei Wochen in der Bayernkaserne einquartiert, ehe sie aus Kapazitätsgründen umziehen müssen. In ein Hotelzimmer in Unterschleißheim, das nicht größer ist als jenes mehr als überschaubare Bademeisterbüro in Haar in dem Ali nun arbeitet. „Nein, für fünf Personen geht das nicht“, erzählt Ali und berichtet, wie die Familie schließlich nach Haar kommt.
Haar wird zur Heimat
„Das war Zufall, wir haben gemeinsam mit dem Landkreis München nach einer Zweizimmer-Wohnung gesucht. Und die haben uns eine in Haar angeboten, die wir schließlich angeschaut und dann genommen haben.“- Endlich angekommen. Die Sprache erlernt Ali Schritt für Schritt, jedoch ohne Kurs. Anfangs kommuniziert er mit seinen Englischkenntnissen . Sprachbegabt ist er sowieso, denn er kann neben Englisch auch die afghanischen Sprachen Dari und Paschtu, zudem noch das pakistanische Urdu, außerdem versteht er Russisch.
Hier in Haar fühlen sich Ali und die Familie schließlich wohl, besonders dass die Deutschen sie so herzlich aufnehmen gefällt ihnen. Doch: Es muss weitergehen für Ali, er will und muss etwas machen.
Es hat sich einiges verändert
Hier und jetzt: Ali geht mit mir, dem Reporter, ein paar Schritte im Haarer Freibad spazieren. Er humpelt dabei. „Keine Ahnung was genau ist. Es ist gestern passiert.“ Ich antworte: „Du solltest zum Arzt gehen.“ Doch Ali will nicht… „Spritzen mag ich nicht, ich habe etwas Angst davor.” Es scheint nicht seine einzige Angst zu sein. Denn plötzlich halten wir an, eigentlich wollten wir nachträglich nur Fotos machen für diesen Artikel. Doch ehe es dazu kommt, setzt Ali an mir etwas Wichtiges mitzuteilen: „Ich soll abgeschoben werden. Das Verfahren läuft, es hat sich einiges seit deinem letzten Besuch getan. Aktuell bin ich nur noch hier, weil meine Anwältin es hinauszögern kann und sich für mich einsetzt.“
Eine hoffnungsvolle Zukunft
Rückblick: 2013, Ali geht nun in die Mittelschule in Haar. Dort schafft er schließlich 2014 den Abschluss, findet Freunde, entwickelt ein Umfeld an dem er hängt, hat aktuell eine Freundin. In Afghanistan studierte Ali noch Bauingenieurwesen – mit 16 Jahren, denn dort sei das Alter nicht so wichtig, sondern die geistige Reife, wie Ali mit einem Schmunzeln die Eigenheiten der afghanischen Bildungskultur verrät. Das dort erworbene Abitur und Studiumleistungen ist hier wertlos, die Freunde von damals sind so wie er auch in die weite Welt gezogen. Weiter geht es trotzdem. Er bewirbt sich für eine Ausbildung bei der Gemeinde als Fachangestellter für Bäderbetriebe. Einziges Problem dabei: Ali kann gar nicht schwimmen.
Schlüsselerlebnis war ein kurzer ungewollter „Tauchgang“ im Starnbergersee. Ali wurde in letzter Sekunde von zwei Jugendlichen gerettet. Um den Schock zu überwinden und die Ausbildung starten zu dürfen, erlernt er das Schwimmen – durch harte Arbeit und viel Übung. Nun tut er das selbe, was ihm in Starnberg widerfahren ist: Leben retten. Ein kleines Mädchen hat er bereits bergen müssen. Was empfindet man in solchen Momenten? Ali zögert, antwortet kurz, fast verlegen: „Man ist stolz.“
Dieses stolz sein, müsste Ali generell kennen, denn fast jeder kennt ihn der Gemeinde Haar. Er gilt als integratives Vorbild und wird gerne als Musterbeispiel öffentlich präsentiert. Beim Helferkreis München und an der Traglufthalle in Haar kommt er als Dolmetscher zum Einsatz, die Medien von BILD hin zum ZDF reißen sich um ihn, die Bürger sprechen ihn oft freundlich an. Ali ist gefragt. „Ja, natürlich freut einen das“, sagt er, etwas peinlich berührt.
Ali, der viel lacht während unseres ersten Gesprächs, sich nicht verstellt und sich aus Verlegenheit für die ihm geschenkte Aufmerksamkeit immer wieder durch die schwarzen Haare fährt.
Er erzählt, dass er die Zeit komplett aus den Augen verliert, wenn er seinem Hobby nachgeht, dem Zeichnen. Denn technische Zeichnungen liebt er, anscheinend ein Relikt aus seinem angefangenen Bauingenieurwesen-Studium in Afghanistan. Ob er sich so etwas für die Zukunft wohl vorstellen kann? Unbeantwortet, denn eigentlich dauert seine Ausbildung bis zum Herbst 2017. Bis dahin sollte eigentlich auch seine Asylgenehmigung gehen. Doch nun?
“Ich verstehe das nicht.”
Ich errinere mich an die Worte Alis, die er mir im Mai diktierte: „Meine Zukunft ist hier, ich hatte keine Zukunft in Afghanistan. Hier weiß ich, dass wenn ich nach Hause komme, meine Familie noch da ist und es ihr gut geht.“ Heute sagt er folgendes: „Ich soll abgeschoben werden, weil Afghanistan als sicher gilt. Doch wie kann das Land denn sicher sein, wenn erst vergangenes Wochenende 80 Menschen (am 24. Juli in Kabul; Anm. d. Red.) bei einer Demonstration gestorben sind? Ich verstehe das nicht, die spielen mit uns…“
Zurückkehren möchte Ali generell nach Afghanistan schon, irgendwann einmal – aber nur zu Besuch. Und so formulierte Ali im Mai drei Ziele, alle aufeinander aufbauend: „Ich will die Ausbildung hier abschließen. Dann arbeiten und schließlich eine Familie gründen.“
Doch davon ist zwei Monate später nichts mehr sicher. Er hofft auf etwas essentielleres: seinen Verbleib in Deutschland. Dort, wo er sich neben der Ausbildung ein Umfeld aufgebaut hat. Mit seiner Freundin, will er im August auch in den Urlaub fahren.
Das Schicksal in den eigenen Händen und irgendwie doch nicht
Alis Ausbildungsbetreuer Sante Ciavarellla und er verstehen sich im Großen und Ganzen gut, das spürt man. Im Mai schien es jedoch kleinere Unstimmigkeiten zu geben bezüglich des Einsatzes von Ali. Mittlerweile, im Juli, gehören die jedoch der Vergangenheit an. So appellierte Ciavarella in unserem ersten Gespräch noch, dass man für sich und sein Schicksal eigenverantwortlich ist: „Ali hat es selbst in der Hand. Er muss noch etwas in der Schule Gas geben, aber das kriegt er hin.“
Nun hat er das Schicksal nicht mehr komplett in der eigenen Hand.
„Ja, ich würde sehr gerne hierbleiben. Aber ich selbst kann nichts mehr machen, außer zu warten und zu hoffen“, sagt Ali, der an diesem schwülen Tag kurz vor den Sommerferien nicht mehr so unbeschwert wie beim ersten Treffen wirkt.
Auf dem Foto versucht Ali zu lachen, es fällt ihm schwer. Wir verabschieden uns. Auf dem Weg zu meinem Auto frage ich mich, ob wir uns wohl nochmal wiedersehen…ich hoffe es für ihn, doch sicher bin ich mir nicht.
Das Schicksal liegt manchmal eben leider nicht in der eigenen Hand, egal was man auch dafür tut.